Die nächste große Sonderausstellung im Franziskanermuseum heißt: „Wie tickt Villingen-Schwenningen?“. Als ich kürzlich meinem Arzt davon erzählte, mutmaßte er, dabei gehe es bestimmt um Uhren. Er irrte sich, auch wenn das „Ticken“ im Titel eine bewusste Anspielung auf den Uhrenreichtum der Doppelstadt ist, der vor allem in Schwenningen seine Spuren hinterlassen hat.
Es spielt aber auch auf die Unterstellung an, die beiden großen Stadtteile Villingen und Schwenningen würden seit jeher unterschiedlich „ticken“. Das ist sogar in einem historischen Sinne wahr, zumindest galten über ein Jahrhundert lang in den beiden Orten verschiedene Kalender: Als man vor 400 Jahren in Villingen schon Neujahr feierte, lebte man in Schwenningen buchstäblich noch in der Vergangenheit. Ein zynischer Villinger könnte behaupten, daran hätte sich nicht viel geändert.
Damit sind wir auch schon beim wirklichen Thema der Ausstellung. Die Stadt Villingen-Schwenningen möchte sich als „Baden-Württemberg-Stadt“ verstanden wissen, die stolz auf ihre heterogen anmutenden Bezirke ist, während ein Teil der Bevölkerung in ungebrochener Leidenschaft über die „Zwangsvereinigung“ im Jahr 1972 schimpft. Das württembergische Schwenningen, protestantisch, sozialistisch, industriell, hätte nie mit dem badischen, katholischen, bürgerlichen Villingen vereint werden dürfen, sagen sie. Dabei wird gerne übersehen, dass nicht zuletzt dieser Zwist zumindest in der Außenwahrnehmung viel zur Identität der Stadt beiträgt. Villingen-Schwenningen, so denkt man sich andernorts, das ist doch die Stadt, in der sich die Leute bis heute darum streiten, wer zu wem und wohin gehört…
Romäus, Neckarquelle, Stadtmauer, Hölzlekönig: Die Eckpunkte der Stadtidentität(en) lassen sich von jedem aufzählen, als wäre eine Stadt mit einer ständigen Rekombination der immer gleichen Elemente erschöpfend erklärt. Dieses schablonenhafte Spiel fällt besonders in der touristischen Werbung, etwa bei Postkarten und Plakaten auf. Ein Romäus hier, ein Münster da, schon ist unverkennbar, was gemeint ist. So wie den Rotfußtölpel anhand seiner roten Füße, so identifizierte man die Schwenningerinnen in der Vergangenheit durch ihre roten Strümpfe; und so erkennt man Schwenningen auch heute noch durch seinen Neckar, seine Uhrenfabriken und seinen Hansel.
Wenigen ist dabei bewusst, dass die auf diese Weise geschaffene Identität keineswegs etwas urtümlich Gewachsenes, sondern eine menschliche Schöpfung, das Produkt kreativer Geister, oder anders formuliert: ein Konstrukt ist. Jede Identität ist kontingent, das heißt, sie könnte auch ganz anders sein, hätte man die Weichen einstmals anders gestellt. Hätte man das Antlitz des Landsknechts Remigius Mans nicht auf den Michaelsturm gemalt, wäre der hünenhafte Romäus heute vielleicht wie viele seiner verdienten Zeitgenossen vergessen. Hätte man im Schwenninger Moos weiterhin Torf abgebaut, statt seine landschaftlichen Reize zu erschließen, fände es sich auf keiner einzigen Postkarte.
Wann diese Stereotypen entstanden, wie und durch wen sie überliefert wurden und wie sie bis heute das Identitätsempfinden prägen, versucht die Sonderausstellung zu beleuchten. Warum so und nicht anders? Wieviel Wahrheit steckt dahinter, wieviel ist Übertreibung, Missverständnis, Konfabulation? Können sich mein thüringischer Vater und mein marokkanischer Nachbar überhaupt trotz so viel Geschichtsbewusstseins hier heimisch fühlen – oder können sie es gerade deswegen?
Wie viel diese historische Perspektive zu aktuellen Themen beitragen kann, wird deutlich, wenn man so manche hitzige Debatte in den sozialen Netzwerken verfolgt. Wer hätte gedacht, dass man noch im Jahr 2017 so leidenschaftlich über das 1847 abgerissene Niedere Tor diskutieren kann? Als ein Architekt den Vorschlag unterbreitete, den Turm als Stahlkonstruktion wiederaufzubauen, spaltete sich die Gemeinde in drei Fraktionen: Befürworter, Gegner und Freunde der historisch-originalgetreuen, massiven Vollrekonstruktion, obwohl niemand weiß, wie das Bauwerk genau aussah. Noch deutlicher wurde die emotionale Verbundenheit mit als „eigen“ und „typisch“ empfundenen Merkmalen, als ein gewitzter Villinger es wagte, an Fastnacht die Fahne einer fiktiven „Historischen Narrenzunft Villingen-Schwenningen“ zu hissen. Der Frevel wurde so reflexartig mit verbalen Steinwürfen gesühnt, als hätte der Sünder „Jehova“ gesagt.
„Über Vergangenes mache dir keine Sorge, dem Kommenden wende dich zu“, rät ein chinesisches Sprichwort. Doch die Vergangenheit ist Quelle und Staudamm in einem: Aus ihr schöpft sich das Wissen darum, wer wir sind, doch kann sie uns daran hindern, zu werden, was wir sein könnten. Wie geht man heute mit der Stadtidentität um, fragen wir Ausstellungsmacher uns daher, für wen ist es überhaupt noch wichtig, ob er nun in Villingen oder Schwenningen wohnt? Empfinden sich die heranwachsenden Generationen vielleicht schon längst als „Villingen-Schwenninger“? Oder sowieso nur noch als Deutsche, Europäer, Weltmenschen? Als archaische Relikte einer vergangenen Epoche muten ihnen dann vielleicht die Exponate in den Museen an, die Bauernmöbel und Uhren im Schwenninger Heimatmuseum so verstaubt und leer wie die Fabriken der einstigen Industriekönige. Ein Fluch oder eine Chance wäre das, je nach Blickwinkel, vielleicht auch beides zugleich.
Fest steht: Identitäten müssen nicht „überwunden“ werden, um Platz für Neues zu schaffen. Das Neue kann sich harmonisch in das Bestehende einfügen. Manchmal ist es aber wichtig, sich von der Vergangenheit zu emanzipieren, den Blick nach vorne zu richten, um den Weg in die Zukunft zu finden. Vielleicht sagen irgendwann auch die Schwenninger einem Besucher, der nur das Klischee von der einst weltgrößten Uhrenstadt im Kopf hat: Wir haben mehr zu bieten. Wir sind Teil von etwas Größerem. Nein, hier geht es nicht (nur) um Uhren.
Vielleicht tickt Villingen-Schwenningen dann endlich im Gleichklang.