Wer hat je eines gesehen und weiß daher, wie ein Einhorn aussieht? Normalerweise geht man auf Safari, wenn man nie gesehene Tiere „auf freier Wildbahn“ erleben möchte. Ähnlich sieht es aus mit Einhörnern. Um eine Foto-Safari zu unternehmen, muss man jedoch nicht nach Afrika reisen. Ein Rundgang durch hiesige Geschäfte und Schaufenster genügt auch. Denn hier wimmelt es geradezu von Einhörnern. Eine kleine Auswahl soll an dieser Stelle kurz vorgestellt werden: Auf der Frühjahrsmesse in Villingen wurde ein luftig leichtes, schwebendes Einhorn in der Oberen Straße entdeckt. Es war sehr wendig, drehte immerzu den Kopf im Wind, so dass es kaum zu fotografieren war. Bei genauem Hinsehen waren es sogar zwei Einhörner, die sich da mit anderen merkwürdigen Gesellen tummelten und gegenseitig den Platz wegnahmen. Die Einhörner waren angebunden damit sie nicht wegflogen. Was es damit genau auf sich hat, lernte ich in Schottland.

Im Urlaub sichtete ich nämlich in ähnlich luftiger Höhe, aber weniger wendig und leicht, eher gravitätisch und starr, ein Einhorn in Edinburgh. Auf einem Platz in der Nähe der Burg thronte es auf einer steinernen Säule und hatte eine schwerwiegende Aufgabe. Es war nämlich als Halter des schottischen Wappens „angestellt“. Was man von unten nicht sehen konnte: Auch hier ist das Einhorn gesichert, allerdings mit einer Kette. Das Einhorn galt im Mittelalter als gefährliches Tier, das nur von einer Jungfrau gezähmt werden konnte. War keine Jungfrau da, musste man es also irgendwie festmachen. Das Einhorn galt zudem als wild, stolz, freiheitsliebend, rein und schön. Diese Eigenschaften sollten auch für Schottland gelten. Deshalb wurde das Einhorn zum Wappenhalter auserkoren.

In Schottland sind Einhörner daher häufig anzutreffen. Normalerweise wird ihnen ein weißes Fell nachgesagt, Zeichen ihrer Besonderheit und Reinheit. So war ich erstaunt, ein goldenes Einhorn zu sehen (ebenfalls in Edinburgh). Es war ein Ladenschild und – oh Schreck – das lange, spitze und gezwirbelte Horn war nur aufgeschraubt. Das Einhorn sollte für Antiquitäten werben und Kunden zu diesem Händler mit Altertümern locken. Vielleicht wollte er damit sagen, dass sein Laden ein geheimnisvoller Ort ist, an dem man Seltsames und Wunderbares entdecken kann.

Zurück aus Schottland entdeckte ich allerlei Einhörner in den Kosmetikabteilungen. Möglicherweise hat dies damit zu tun, dass dem Blut des Einhorns – der Sage nach – wundertätige Wirkung zugeschrieben wurde: Wunden schließen sich und Todgeweihte können gerettet werden. Man erinnere sich an die Szene bei Harry Potter, als Lord Voldemort versucht, sich am Blut des toten Einhorns zu laben. Wahrscheinlich von dieser Szene angeregt, gibt es Einhorn-Badeschaum. Er wird durch Wasser zu grünem Glitzerglibber (ähnlich der Spur, die das wunde Einhorn bei Harry Potter im Wald hinterlassen hat). Vielleicht finden sich daher auch Einhörner auf so lifestylish dargebotenen Trinkbechern?

In der Tat wird hier  „Unicorn bath water“ auf dem Becher annonciert, also ein Zaubertrank, der einen womöglich gegen alle Mühsal des Lebens abhärten soll. Mit Herzchensonnenbrille ausgestattet kann aus dem rosaroten Becher nur Labsal fließen. Der Schwimmreif, den das sagenhaft starke Einhorn, das auch fliegen kann, bestimmt nicht braucht, kann nur die Rettung für den (im Alltagstrott Er-)Trinkenden gemeint sein: ein bisschen Einhornsaft hilft gegen alles, auch wenn es nur rosa scheinendes Wasser ist.

Ebenfalls gegen die Mühsal des Alltags hilft der für Kinder angebotene Einhorn-Rucksack. Wer so stark ist wie das Einhorn, kann schon auch mal die Bürde eines Kindergartenkindes erleichtern:

kein Nörgeln beim morgentlichen Abmarsch in den Kindergarten, wenn der Schlaf noch kaum aus den Augen gerieben ist, kein Nörgeln beim Abholen am Mittag oder Abend, wenn das Kind müde und erschöpft ist. Der lustige Einhorn-Rucksack streckt allem Ärger die Zunge raus, macht automatisch gute Laune und lässt die kleinen Beinchen gleich doppelt so schnell laufen als ohne Rucksack. Zusätzlich signalisiert die rosa (statt weiße) Farbe des Einhorns als Zugeständnis an den Zeitgeist: alles locker, alles easy.

Ehrlich gesagt, hätte ich nicht gedacht, dass die Werbestrategen und Produktdesigner so viel Kulturgeschichte im eigenen Rucksack haben. Denn eigentlich sind die mythologischen Hintergründe der Einhorn-Figur – Leser von Fantasy-Geschichten ausgenommen – niemandem mehr so präsent. Es sei denn, er ist ein fleißiger Besucher von Museen, z.B. des Franziskanermuseums. Denn auch hier finden sich Einhörner und zwar richtig alte.

Auf der Minnetruhe aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts sieht man ein Einhorn friedlich und entspannt in einem Garten liegen. Es ist einer Jungfrau zugewandt, einer Prinzessin (Krone), die auf einer Fidel spielt. Die Jungfrau ihrerseits blickt zu einem Jüngling (auf der anderen Seite des Gartens), der Harfe spielt. Ihm hat sich ein Löwe zugesellt, der ebenfalls ganz zufrieden wirkt, die Zunge rausstreckt und locker mit dem Schwanz in die Luft peitscht. Dies ist eine paradiesische Szene, denn ein ideales Paar, sie keusch und rein (symbolisiert durch das Einhorn), er stark und mächtig (symbolisiert durch den Löwen), hat sich hier gefunden, – jedenfalls nach prä-feministischer Ansicht.

In diesem Ausstellungsraum des Franziskanermuseums, der dem patrizischen Wohnen gewidmet ist, befinden sich auch zwei Bodenfliesen mit Einhornmotiv. Es handelt sich um ein „steigendes“ Einhorn, wie dies häufig bei Wappentieren der Fall ist. Das Einhorn steht auf seinen Hinterbeinen. Das sehr lange, spitze  und spiralig gedrehte Einhorn ist stark nach unten geneigt, um in der Wappenkartusche Platz zu finden. Dieses Wappenschild passt stilistisch in die Zeit um 1500. Es könnte sich um ein Familienwappen handeln oder einfach ein Schmuckmotiv. Auch andere Wappentiere wie Löwen und Greife sind auf solchen Fliesen zu sehen.

Um den gegenwärtigen Einhorn-Hype museal aufzugreifen, hat das Franziskanermuseum eine Kindergeburtstagsführung zum Thema konzipiert. Dabei werden nicht nur Einhörner, sondern auch andere Fabelwesen und Märchenfiguren thematisiert. Zwei Kinder können sich jeweils als Einhorn verkleiden. Als Aktion werden Karten mit den Fabelwesen und Märchenfiguren verziert. In dieser Führung lernt man auch, dass das (abgeworfene) Horn des Narwals – das lang und spiralig gedreht ist – wahrscheinlich als Einhorn-Horn missverstanden wurde und so die Mutmaßungen über die Existenz von Einhörnern weiter befeuerte. Die Festgesellschaft  des Kindergeburtstags kann nach der Führung mit (von den Eltern gebackenen) Einhorn-Muffins und (mitgebrachtem) „Einhornsaft“ bis zum Ende der Öffnungszeiten im Aktionsraum weiterfeiern: eine fabelhafte Sache!