Villingen hat seine wesentlichen Züge mit dem markanten Straßenkreuz, den Tortürmen und der Stadtmauer durch die Jahrhunderte bewahrt. Dennoch hat sich das Antlitz der Stadt immer wieder grundlegend gewandelt. Viele einst wohlbekannte Orte sind längst in Vergessenheit geraten, und wo es keine Zeitzeugen mehr gibt, muss die Geschichte aus verstreuten Notizen und wenigen, von der Zeit gezeichneten Relikten rekonstruiert werden. So ist es auch mit dem Villinger Schützenhaus, das sich vor Jahrhunderten auf dem längst verschwundenen Lindenwasen befand – und von dem noch heute einige Objekte im Franziskanermuseum zeugen.

Ein wahres Vorstadtidyll

Der Lindenwasen muss ein schöner Ort gewesen sein: Ein großes Wiesenfeld mit einer alten Linde am Ufer der Brigach, umgeben von zahlreichen blühenden Gärten. So berichtet es der Verleger Ferdinand Förderer im Repertorium der Altertümersammlung, dem zufolge der Lindenwasen südlich der alten Bickenbrücke auf der rechten, stadtzugewandten Seite der Brigach lag, also ungefähr zwischen dem heutigen Kaiserring, der Bickenstraße, der Postgasse und dem Bahnhof. Auf der Wiese sollen sich der Übungsplatz und das Schützenhaus der Armbrustschützen befunden haben, von denen Förderer zufolge aber bereits im 18. Jahrhundert „jede Spur verwischt“ gewesen sei. Die namensgebende Linde musste im frühen 19. Jahrhundert gefällt werden, nachdem sie durch einen Sturm beschädigt worden war. Anschließend begann sich das Gelände noch zu Förderers Lebzeiten grundlegend zu wandeln: Die alte Steinbrücke wurde durch eine neue Eisenbrücke ersetzt, es entstanden die ersten Gebäude der östlichen Vorstadt und schließlich das Bahnhofsgelände mit angrenzendem Villenviertel. Wo einst Wiesen und Gärten standen, pulsierte nun das Leben des Industriezeitalters. Doch als man in den 1870ern daranging, den Lauf der Brigach zu korrigieren, tauchten zahlreiche eiserne Pfeilspitzen und Armbrustbolzeneisen auf – Reste einer längst vergangenen Epoche. Verantwortungsbewusste Bürger sicherten die Funde und übergaben sie der städtischen Altertümersammlung.

Sport- und Mordwaffen

Die Spitzen wurden sorgsam auf drei Bilderrahmen montiert, von denen zwei in der Dauerausstellung des Franziskanermuseums zu sehen sind. Insgesamt liegen 36 einzelne Geschossspitzen und 3 geschäftete Übungspfeile vor. Da einzelne Formen lange in Gebrauch waren, ist eine genaue Datierung schwierig. Die schmalen Spitzen mit weidenblattförmigen Blättern und rhombischem Querschnitt tauchen im späten 12. Jahrhundert erstmals auf und blieben bis ins ausgehende Mittelalter, vereinzelt sogar bis ins 16. Jahrhundert hinein in Gebrauch. Die drei etwa 14 bis 18 cm langen „Sportpfeile“, die über eine Bürgerin namens Herta Grießer in die Sammlung kamen, weisen an einem Ende bronzene Manschetten auf, bei denen es sich entweder um eine rückseitige Verstärkung oder aber um stumpfe Übungsspitzen handeln könnte. Nichts Näheres ist über die Herkunft einer hölzernen Armbrust mit ergänztem Bogen bekannt, die über den Gemeinderat Rudolf Kienzler in die Sammlung kam und die ebenfalls ins 16. Jahrhundert datieren könnte.

Geschossspitzen vom Lindenwasen im Franziskanermuseum
Auf Rahmen montierte Geschossspitzen vom Lindenwasen, Franziskanermuseum

Schieß- und Spießgesellen

Dass Armbrustschützen eine wichtige Rolle in der mittelalterlichen Stadtgesellschaft spielten, ist offenkundig: Bis weit in die Neuzeit hinein waren sie militärisch unabdingbar. Im Vergleich zum Bogen war die Handhabung der Armbrust relativ leicht zu erlernen, weshalb sie bei den Bürgerwehren eine große Verbreitung fand. Dennoch zeichnete die Armbrustschützen ein hohes „Standesbewusstsein“ aus: Wie die Handwerkerzünfte fanden auch sie sich zu eigenen Gesellschaften und Vereinigungen zusammen. Die Villinger Armbrustschützen gründeten ihre Bruderschaft am 18. März 1459 und stifteten fortan Messen auf den St.-Sebastians-Altar in der Franziskanerkirche, der ihrem Schutzpatron geweiht war. Immer wieder trafen sie sich mit den Schützengilden anderer Städte zu feierlichen Schützenfesten, um ihre Kunst – und die Wehrhaftigkeit ihrer Stadt – unter Beweis zu stellen. Ein solches Fest mit insgesamt 72 Schützen und prominenten Gästen, darunter Graf Friedrich von Fürstenberg und Burkhart von Schellenberg, fand am 27. Oktober 1522 auf dem Alten Rathaus statt. Es handelte sich Heinrich Hug zufolge um „eine fröhliche, ehrliche Gesellschaft mit Spielen, Tanzen und mit allen Freuden“. Später wurden die Villinger ihrerseits von den „Schießgesellen zu Breisach“ zu einem freundschaftlichen Schützenfest eingeladen, bei dem auf Scheibenblätter geschossen wurde. Zu einem weiteren Schützenfest am 18. Oktober 1597 wurde Graf Friedrich zu Fürstenberg eingeladen, der aber aus gesundheitlichen Gründen absagen musste.

Übungspfeile vom Lindenwasen im Franziskanermuseum
Drei Übungspfeile vom Lindenwasen in der Abteilung „Stadtgeschichte bis heute“, Franziskanermuseum

Dass es in diesem Umfeld von Waffen, Wettkampf und Alkohol auch zu Gewalttaten kam, zeigt ein Zwischenfall bei einem Schützenfest in Schwenningen am 6. August 1479. Bei Streitereien waren die zwei Schwenninger Hans Müller und Klaus Kammerer getötet wurden, deren Brüder schließlich vor dem Hofgericht zu Rottweil eine Mordklage gegen eine ganze Reihe von Villinger Bürgern vorbrachten. Die Täter behaupteten ihrerseits, in Notwehr gehandelt zu haben, nachdem die Gegenseite sie unter wüsten Beschimpfungen angegriffen hätte. Als Zeugen führten sie zwei Villinger und zwei Rottweiler Bürger auf.

Aus dem Jahr 1795 liegt eine Schützenordnung vor, die auf eine ältere Fassung von 1712 und vielleicht auf noch ältere Vorlagen des 15./16. Jahrhunderts zurückgeht und die Einblicke in das Innenleben der Schützengilde gewährt. Dieser Quelle zufolge fanden alljährlich 12 reguläre Wettschießen und 8 Gesellschießen statt, wobei die Saison stets am 23. April um 5.30 Uhr mit einer Messe zu Ehren des heiligen Sebastian begann und am 11.11. (Martini) endete. Der Schießplatz befand sich zu dieser Zeit nicht mehr am Lindenwasen, sondern westlich der Stadt vor dem Riettor, wo er auch auf einer um 1685 entstandenen Karte eingezeichnet ist und wovon noch der Flurname „Schützenangel“ zeugt (ungefähr beim heutigen Theater am Ring).

Wie sah das Schützenhaus aus?

Über das alte Schützenhaus berichten die Quellen wenig. Wir wissen daher auch nicht, wann es errichtet wurde. Heinrich Hug erzählt, dass der Überlinger Bürgermeister Hans Freiburger in der Nacht des 13. Oktobers 1524 „gutte gesellschafft by den armbrosßtschuczen“ hielt, gibt aber keine genaue Ortsangabe. Schließlich begegnet es uns noch beiläufig in einer Heiratsabrede von 1591, in der verfügt wird, dass die Kinder der Susanna Sichler die „wüsß [Wiese] beim armbrustschützen hauß vorm Bückhenthor“ erhalten sollen. Der Name „Lindenwasen“ taucht erst in Dokumenten des 19. Jahrhunderts auf. Aufschlussreicher sind zeitgenössische Darstellungen: Das Gebäude ist auf diversen Skizzen der „Winterbelagerung“ von 1633, dem entsprechenden, später entstandenen Gemälde für die Herrenstube aus dem Umfeld von Anton Schilling sowie der Pürschgerichtskarte von Anton Berin von 1607 zu sehen. Es ist genau an der von Förderer beschriebenen Position am rechten Brigachufer vor dem Bickentor dargestellt und taucht auf Ansichten nach 1633 nicht mehr auf. In der Vedute von Matthäus Merian von 1643 fehlt es bereits, obwohl diese den Lindenwasen deutlich zeigt. Am 11. Januar 1633 war das Schützenhaus nach einem erfolgreich abgewehrten Angriff des württembergischen Obristen Michael Rau von den Villingern niedergebrannt worden, um dem Feind keine Verschanzungsmöglichkeiten zu geben. Dementsprechend sehen wir es auf den Belagerungsbildern in Rauch und Flammen gehüllt. Anscheinend erfolgte danach kein Wiederaufbau, wohl auch weil die neuen Feuerwaffen der Armbrust inzwischen den Rang abgelaufen hatten: Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurden für die Armbrustschützen keine Ausgaben in den städtischen Rechnungen mehr verzeichnet.

Schützenhaus auf einer Belagerungsskizze von 1633
Das Schützenhaus auf einer Belagerungsskizze von 1633, SAVS

Folgt man der These, dass es sich bei dem dargestellten Gebäude vor dem Bickentor um das Schützenhaus handelt, lassen sich einige Informationen über dessen Aussehen gewinnen. In allen Fällen ist ein niedriger, ein- oder zweigeschossiger Bau zu sehen, neben dem ein weiteres, kleines Gebäude steht. Inwiefern die beiden Gebäude zusammenhingen, ist nicht bekannt, immerhin aber scheinen sie auf der Pürschgerichtskarte von Berin durch einen umzäunten Innenhof miteinander verbunden zu sein. Für die Schutzhütte des „Zeigers“, der beim Scheibenschießen die Trefferquote anzeigte, ist das kleine Nebengebäude schon fast zu groß, obwohl man sich auf dem Innenhof gut den Schießplatz vorstellen könnte. Auf dem im Franziskanermuseum ausgestellten Belagerungsbild von 1717 sowie auf der Pürschgerichtskarte ist das Gebäude auf einer Flussinsel dargestellt, die von zwei Armen der Brigach umgrenzt wird. Die exponierte Lage vor dem Bickentor dürfte die Bedeutung der Armbrustschützen für die Verteidigung der Stadt unterstrichen haben.

Schützenhaus auf der Pürschgerichtskarte von 1607
Der Lindenwasen mit dem Schützenhaus auf der Pürschgerichtskarte von Anton Berin, 1607

Einige Beispiele von Schützenhäusern aus der näheren Umgebung können zum Vergleich herangezogen werden, um weitere Aussagen über die Architektur zu treffen. Erst vor wenigen Jahren wurde ein bis dahin unscheinbares Gebäude in der Rottweiler Altstadt als Zunfthaus der Armbrustschützen identifiziert, gerade rechtzeitig, um es vor dem geplanten Abriss zu retten. Es handelte sich um einen zweigeschossigen Fachwerkbau von geringer Höhe und auffällig breiten Proportionen, der zu allen Seiten frei stand . Im Ober- und Untergeschoss befand sich jeweils nur ein einziger ungeteilter Raum mit freistehenden Stützen, das Untergeschoss wies außerdem fünf große Öffnungen auf. Ein ganz ähnliches Schützenhaus mit zwei Geschossen und großen Lauben oder Toröffnungen wurde von Dominikus Debler aus Schwäbisch Gmünd zeichnerisch überliefert. Auch das Schützenhaus von Leonberg weist Ähnlichkeiten mit diesen beiden Gebäuden auf, denn es stand ebenfalls frei am Stadtrand, war zweigeschossig, in Fachwerkbauweise errichtet und besaß einen großen Saal im Obergeschoss. Damit zeichnen sich Ansätze eines eigenen Bautypus ab, der vielleicht auch für Villingen angenommen werden kann.

Schützenhaus in Schwäbisch Gmünd
Schützenhaus in Schwäbisch Gmünd, StadtA, Bestand C01 (Chroniken), Nr. 12 Bd. 12, S. 476

Unter dem Schutz der Heiligen

Neben den Geschossspitzen hat sich ein weiteres Relikt des Schützenhauses im Franziskanermuseum erhalten. Es ist die Holzskulptur des Heiligen Christophorus mit Christuskind, die heute in der Abteilung „Sakrale Kunst“ ausgestellt ist. Die farbig gefasste Lindenholzfigur aus dem späten 15. Jahrhundert zeigt den Heiligen mit Stab und Christuskind auf seiner Schulter und enthielt vermutlich einst eine Reliquie, worauf eine Öffnung an der Brust deutet. Ursprünglich schmückte sie den hölzernen Marktbrunnen, der 1554 einem steinernen Brunnen mit einem Bildnis Kaiser Ferdinands I. weichen musste. Den Christophorus brachte man daraufhin in das Schützenhaus auf dem Lindenwasen. Über die weitere Geschichte bis zum Ankauf durch die Altertümersammlung vom „Brunnenbäck“ Michael Maier ist nichts bekannt.

Christophorus mit Christuskind im Franziskanermuseum
Christophorus mit Christuskind im Raum „Sakrale Kunst“, Abteilung Stadtgeschichte bis 1800, Franziskanermuseum

Neben dem heiligen Sebastian, der aufgrund seines Martyriums der wichtigste Patron der Bogen- und Armbrustschützen war, wurde auch Christophorus als Schutzpatron verehrt. Er soll vom König von Lykien aufgrund seines Glaubens verfolgt worden und von 400 Bogenschützen angegriffen worden sein, die ihm aber nichts anhaben konnten. Die Pfeile blieben wundersamerweise in der Luft stehen, einer machte kehrt und traf den König im Auge, der daraufhin erblindete – ein Szenario, das sich wohl auch so mancher Armbrustschütze im Gefecht herbeiwünschte.

Zeitspuren

Ferdinand Förderer, der Verleger, Chronist und Begründer der Altertümersammlung, hatte wie die meisten Sammler seiner Zeit ein ambivalentes Verhältnis zur Moderne. Er begrüßte den gesellschaftlichen Fortschritt und die rasante Entwicklung seiner Heimatstadt, dachte aber auch mit Melancholie an vergangene Epochen und versuchte ihre Zeugnisse zu bewahren. Seinen und Johann Nepomuk Oberles Bemühungen ist es zu verdanken, dass zahlreiche solcher Zeitspuren erhalten blieben und heute durch das Franziskanermuseum, dessen Vorläufer die Altertümersammlung war, zugänglich gemacht werden können. Förderers Blick auf die sich wandelnde Heimat klingt in seinen abschließenden Worten über den Lindenwasen an:

„Auf keiner Seite der Stadt und deren nächsten Umgebung hat die Neuzeit so viele und große Veränderungen gebracht, wie auf dieser. […] Wenn heute ein alter Villinger dem Grabe erstünde, so würde er [vieles] nicht wiederfinden. Staunen aber würde er über das Toben und Pfeifen der Lokomotive, über den lebendigen Verkehr, der sich tagtäglich durch Menschen und Maschinen auf diesem kleinen Fleck Erde entwickelt! So ändern sich die Zeiten und die Menschen in ihnen!“