Als Kind teilweise bei meiner katholischen Großmutter im Schwäbischen aufgewachsen, erlebte ich einen nicht zu geringen Schock, als wir einmal in Bad Schussenried die Kirche besuchten und dort in gläsernen Särgen bekleidete und kunstvoll verzierte Skelette lagen. Ich weiß noch, wie ungläubig ich diese anstarrte: Sind die echt? Und: Wer macht denn so was?, fragte ich mich. Ich war mehr als irritiert.

Für die Ausstellung „GRABRAUB. Spurensuche durch die Jahrtausende“ habe ich verschiedene Reliquientäfelchen und -kapseln aus unserer Sammlung neu inventarisiert. Denn natürlich stammen diese Knochen und Knöchelchen aus Gräbern und gehören damit zum Thema der Ausstellung, in der es um Grabmanipulation geht. In diesen Reliquienkästchen, die aussehen wie normale Andachtsbilder hinter Glas, sind die Reliquien wesentlich dezenter ausgestellt als die „Heiligen Leiber“ in Bad Schussenried. Sie sind zum Teil in so winzigen Partikeln, dass man nicht sofort auf die Idee kommt, es handle sich um die Reste von Toten. Das hat u. a. mit der starken Nachfrage nach Reliquien seit dem 16. Jahrhundert, dem Zeitalter der Gegenreformation, zu tun. Die Anzahl der Reliquien ließ sich nur durch immer kleinere Teilchen derselben vergrößern.

Heutzutage ist der Tod eines der wenigen verbleibenden Tabus. Die Totenruhe zu stören, gilt als Straftat. Was hat die Menschen in früheren Zeiten, vor allem im 18. und 19. Jahrhundert, bewegt, Reliquien teuer und mühsam zu erwerben, zu sammeln, aufwendig mit Goldfäden und Perlen zu verzieren und entweder in der Wohnstube aufzustellen oder sogar als Medaillon am Körper zu tragen?

Letztere, die sogenannten „Berührreliquien“, dienten zum Schutz der sie mit sich führenden Personen. Kam es zu einer Gefahr, sei es Krankheit oder Unfall, versicherte man sich durch das Berühren der Reliquie (in Kapsel oder Anhänger) des Beistands des Heiligen. Die größeren Reliquienkästchen sind meist für den Herrgottswinkel vorgesehen, eine besondere Form von Andachtsbildern. Auch sie sollten die Familie vor Unglück und Krankheiten bewahren. In einer Zeit ohne Krankenversicherung, Medikamente für alle und vor allem Antibiotika und Impfungen war dies die einzige Methode, um sich einigermaßen sicher zu fühlen.

Noch größer als die Angst vor diesseitigen Gefahren war jedoch die Angst vor dem Jenseits. Hier drohten Hölle oder zumindest Fegefeuer, und auch dies beflügelte den Reliquienhandel. Mit Reliquien konnte man einen Ablass erwirken, d.h. die Zeit im Fegefeuer verringern. Sehr kaufmännisch wurde berechnet, welche „Sünden“ wie viele Tage im Fegefeuer bedeuteten, bzw. umgekehrt, welche Maßnahmen diese Zeit wieder verkürzen würden. Schon diese Rechenexempel muten sehr menschlich und nicht gerade „gottgewollt“ an. Daher prangerten alle Reformatoren, ob Luther, Calvin oder Zwingli, diese Praktiken im 16. Jahrhundert als abergläubisch an und verdammten Ablasshandel und Reliquienkult. Der nicht versiegende Nachschub an „heiligen Knochen“ führte aber auch bei den Gläubigen zu Zweifeln. Daher wurden aufwändige Echtheitszertifikate – möglichst mit päpstlichem Siegel – mitverkauft. Die ungefähr gleichzeitige Wiederentdeckung der Katakomben in Rom mit ihren frühchristlichen Märtyrergräbern führte jedoch zu einem reichhaltigen Angebot und schwunghaftem Handel.

Reliquienkapsel mit 12 Reliquien, aus der Sammlung Oskar Spiegelhalder,
Schwarzwald (?), Mitte 18. Jahrhundert, Franziskanermuseum, Inv.Nr. 04717

Diese Reliquienkapsel enthält Knochenpartikel von 12 Heiligen in eiförmigen Mullverpackungen. Die „Cedulae“, Zettelchen mit Beschriftungen, informieren von welchen Heiligen sie stammen. Spiegelhalder schreibt im Inventar, es handle sich um die „14 Nothelfer“, zu denen als bekanntere Christopherus, Katharina und Barbara gehören. Es sind aber nur 12 und nicht diese Namen. Warum so viele? Jeder Heilige hatte andere Funktionen, half bei bestimmten Leiden oder in bestimmten Situationen. Vielen ist vielleicht noch die „Such-, bzw. Findefunktion“ des Hl. Antonius geläufig. Er wurde angerufen, wenn Dinge verloren gingen. Auch der Hl. Christopherus ziert heute noch manches Auto-Cockpit. Er schützte vor dem „plötzlichen Tod“, in früheren Zeiten z. B. durch die Pest. Schaute man auf sein Bild, wenn man ohne Sterbesakramente starb, konnte man trotzdem für den Himmel gerettet werden. In der Neuzeit ist der plötzliche Tod der Unfalltod, der einen am ehesten im Auto ereilen kann. Eine solche Reliquienkapsel mit vielen Heiligen konnte den gläubigen Besitzer in vielen Notlagen helfen. Die Kapsel ist aus Holz, das auf der Rückseite leicht gewölbt und wie ein Handschmeichler schön abgeschliffen ist. Vielleicht befand sie sich in einer Hosentasche, war also immer greifbar.

Reliquienanhänger mit Reliquien des
Heiligen Vinzenz von Paul (1581-1660),
Frankreich, nach 1858,
Franziskanermuseum Inv.Nr. 13658

Auch ein solcher Anhänger, der möglicherweise an einer Kette um den Hals hing, war immer greifbar. Die Darstellung der Unbefleckten Empfängnis auf der Vorderseite geht auf eine Vision der Bernadette Soubirous (1844-1879) in Lourdes (Frankreich) zurück. Solche Medaillons wurden massenhaft hergestellt und an die Wallfahrer verkauft. Die Kombination mit einem Reliquienbehältnis ist allerdings besonders und verweist vielleicht mit ihrem Inhalt auf das Kloster Rottenmünster, wo die Barmherzigen Schwestern sich der Krankenpflege widmeten. Ihr Patron war der französische Heilige, Vinzenz von Paul (1581-1660).

Reliquienkapsel, Reisealtärchen, Schwarzwald (?), Mitte 18. Jahrhundert, Franziskanermuseum Inv.Nr. 16446

Ebenfalls mobile Reliquienbehältnisse sind diese Reliquiendosen, die aus zwei mit einem Scharnier verbundenen, oben rundbogig abschließenden Teilen bestehen. Dadurch lassen sie sich für den Transport verschließen und am Zielort als Reisealtärchen öffnen und aufstellen. Reisen war bis in die frühe Neuzeit mit den verschiedensten Gefahren verbunden: man konnte krank werden, mit der Kutsche verunfallen oder von Räubern oder Soldaten angegriffen werden. Ein mitgeführtes Reliquiar vermittelte eine gewisse Sicherheit. Solche mit Gold- und Silberfäden gefassten, mit Pailletten und Perlen verzierte Reliquientafeln wurden in Frauenklöstern hergestellt. Die Nonnen verdienten sich damit einen Teil ihres Lebensunterhalts. Für die Region um Villingen sind die Klosterfrauen von Rottenmünster, die Benediktinerinnen von Amtenhausen (Tuttlingen) und die Dominikanerinnen in Villingen (Vettersammlung) nachweislich in diesem Metier tätig.

Die beiden hier abgebildeten Reliquientafeln sind im Inventarbuch der Altertümersammlung mit dem Hinweis „aus dem Sammlungskloster“ (gemeint ist damit die Vettersammlung) versehen. Die Rückseiten sind mit Schmuckpapier und Makulatur (bereits beschriebenes Papier in Zweitverwendung) verklebt. Auf der Makulatur ist handschriftlich mit brauner Tinte zu lesen: „Villingen im Juni 1825 Karl Granser“. Die Hl. Katharina von Siena war die Kirchenpatronin des Dominikanerinnenklosters, in welchem die Vettersammlung aufging. Alle diese Punkte sprechen für eine Entstehung der Reliquientafeln bei den Klosterfrauen in Villingen. Benutzt wurden sie als Andachtsbilder im privaten Wohnbereich, z. B. im sog. Herrgottswinkel.

Ein letztes Beispiel aufwändiger Klosterarbeiten zeigt zwei als Gegenstücke (Pendants) gearbeitete Andachtsbilder in schönen Goldrahmen mit Rococco-Ornamenten. Möglicherweise stammen sie aus dem Kloster Amtenhausen. Die Nonnen dort pflegten einen Collage-Stil, der Teile von Kupferstichen (hier Gesichter und Hände) mit echten Stoffen, Spitzen und anderem Schmuck kombinierte. Dadurch erhalten die Darstellungen eine größere Realistik und Natürlichkeit. Beide Figuren sind oben mit rundbogigen kurzen Vorhängen und Posamenten und seitlichen gerafften Vorhängen gerahmt. Die Motive von Herz Jesu und Herz Mariä sind im 18. Jahrhundert weit verbreitet. Der hohe Anteil an goldenen Materialien verleiht den Tafeln zusätzlich eine ästhetische Qualität. Reliquien sind in diesen Bildern vermutlich nicht enthalten.