Die Ausstellung „Lust und Leidenschaft, Schmerz und Enttäuschung. Expressionistische Künstler in Villingen„, die noch bis 13. Oktober im Franziskanermuseum zu sehen ist, gibt Anlass, die Werke der Villinger Künstler der Moderne im Stadtraum aufzusuchen. Leider nimmt man ja viele Eindrücke, die allzu vertraut sind, gar nicht mehr richtig wahr. So mag es beispielsweise den Entwürfen Richard Ackermanns für einen Kreuzweg ergehen, die in der Kapelle der Heilig-Kreuz-Kirche in Villingen hängen. Es handelt sich um 14 Einzelbilder, die auf dem Rahmen jeweils links mit einem kleinen dreidimensionalen Kreuz und rechts mit einer römischen Zahl markiert sind. Sie waren für einen Kreuzweg zwischen Stadt und Lorettokapelle  vorgesehen, der nie realisiert wurde. Die Einzelbilder sind mit Ackermanns Monogramm signiert, dem „RA“, das an das Kürzel „AD“ Albrecht Dürers erinnert. Außerdem ist jedes Einzelbild rechts unten datiert. Dabei springt die Datierung in der Reihe. Die Bilder 1-7 sind von 1955, ab Bild 8 findet sich die Datierung 1959, mit Ausnahme von Bild 13, das wieder 1955 datiert. Möglicherweise findet sich hierfür eine Erklärung in der Biographie Ackermanns.

Innenansicht der Kapelle der Heilig-Kreuz-Kirche in Villingen-Schwenningen. Foto: Michael Raub.

Richard Ackermann (1892-1968) kam aus einem künstlerisch geprägten Elternhaus. Der Urgroßvater, Dominikus Ackermann der Ältere („Öl-Müller“), war Bildhauer und ein in Villingen berühmter Schemenschnitzer. Der Großvater, Dominikus Ackermann der Jüngere, hatte in München Kunst studiert. Von ihm sind verschiedene Stadtansichten überliefert, die das „alte Villingen“ darstellen und zum Teil das kollektive Gedächtnis bis heute prägen.  Mütterlicherseits wurde musikalisches Talent weitervererbt, so dass Richard Ackermann mit einer Mehrfachbegabung gesegnet war: bildnerisch, musikalisch und literarisch. Als er in Freiburg eine Glasmalerlehre absolvierte, besuchte er gleichzeitig das Konservatorium und hielt sich damit auch eine Karriere als Konzertpianist offen. Letztendlich entschied er sich jedoch für eine Laufbahn als freier bildender Künstler. Die Absicherung durch sein wohlhabendes Elternhaus erleichterte diese Wahl. Sie entsprach auch seiner eigenwilligen Persönlichkeit. Auftragsarbeiten interessierten ihn kaum. Er übernahm auch als durch den Ruin des väterlichen Geschäfts diese finanzielle Sicherheit wegfiel, nur Aufträge, die ihn künstlerisch reizten. Dies muss bei den Kreuzwegstationen der Fall gewesen sein.

Die 14 Stationen eines Kreuzwegs erzählen die Leidensgeschichte Jesu von seiner Verurteilung bis zu seiner Beerdigung. Diese Andachtsform ist der echten Via Dolorosa in Jerusalem nachempfunden und soll dem Gläubigen in der räumlichen Fortbewegung von Station zu Station („Wallfahrt“) eine gedankliche Versenkung in das Leidensgeschehen und sozusagen den körperlichen Nachvollzug ermöglichen. Die christliche Ikonographie, die im Mittelalter beim Betrachter nicht mit höherer Bildung rechnen konnte, basierte schon immer auf einer emotionalen und anschaulichen Formensprache. Ackermann übersetzt dieses Anliegen in seine eigene Zeit und wählt aus diesem Grund formale Anklänge an die Comic-Sprache.

Erstes Bild. Foto: Michael Raub.

Die erste Szene „Jesus wird zum Tod verurteilt“ ist ein starker Auftakt. Das Bild ist nahezu symmetrisch komponiert. Christus steht in der Mitte, übergroß. Die kleineren Figuren von Pilatus und Kaiphas sind links und rechts unter von oben kommenden Pfeilen angeordnet. Pilatus zeigt auf Christus. Der Bibelkundige ergänzt die Worte „Ecce homo“ („Seht diesen Menschen“), mit denen Pilatus die versammelte Menge um Gnade bittet. Der jüdische Hohepriester Kaiphas ähnelt mit Hakennase und Tracht der gleichen Figur auf den Kulissen eines Heiligen Grabes aus dem Münster. Sie sind heute im Chorraum des Franziskaner ausgestellt. Ackermann kannte sie wahrscheinlich. Kaiphas´ vergrößerte Augen erinnern an die ausdrucksstarken Gesichter von Comic-Figuren. Der jüdische Hohepriester ist der Gegenspieler in diesem Drama. Er fordert den Tod von Jesus. Daher sind die von oben herab zeigenden Pfeile rechts und links der Christusfigur wie die Querbalken eines Kreuzes angelegt. Die Pfeile gleichen Bildsymbolen bei Paul Klee. Hier bei Ackermann bedeuten sie offensichtlich Angst, Unheil, Tod. Sie weisen auf das Ende der Geschichte voraus und direkt auf die Verursacher. Die „versammelte Menge“ vor Pilatus ist in noch kleinerem Format dargestellt. Die Kunstgeschichte spricht von „Bedeutungsgröße“, was nichts Anderes heißt als, dass  große Figuren wichtiger als klein dargestellte sind. Und diese klein Dargestellten sind auf Pilatus´ Seite ein römischer Soldat, aber auch zwei Soldaten in NS-Uniform, die den Hitlergruß zeigen: Zehn Jahre nach Kriegsende eine provozierende Darstellung und möglicherweise ein Grund, warum der Kreuzweg nie zur Ausführung kam.

Drittes Bild. Foto: Michael Raub

Die dritte Szene „Jesus fällt z. ersten mal unter dem Kreuz“ verdeutlicht das Comic-Artige. Ackermann verzichtet zwar auf Sprech- und Denkblasen, was ein wichtiges Merkmal des Comics darstellt. Die Bildunterschriften und das biblische Vorwissen des Betrachters reichen aus. Aber er visualisiert Unsichtbares wie den grimassierenden Teufel. Dieser drückt mit seinen Krallen offenbar das Kreuz so auf den Rücken des Verurteilten, dass dieser stürzen muss. Die Krallen hinterlassen – als dynamisierendes Element – Kratzspuren auf dem Kreuzbalken. Während Christus´ Gesichtsausdruck realistisch leidend wiedergegeben ist, sind seine Widersacher mit großen Augen wie im Comic überzeichnet. Noch deutlicher wird dies beim dritten Sturz, wenn Jesus unter dem Kreuz fast verschwindet. Die „Bösen“ dominieren die obere Bildhälfte. Ihre Augen zeigen viel Augenweiß, sind also weit aufgerissen. Das böse Grinsen des Teufels symbolisiert eine sichtbare Zahnreihe, also „gebleckte Zähne“ wie bei einem aggressiven Tier.

Neuntes Bild. Foto: Michael Raub.

Das Schlussbild des Kreuzwegs wirkt ähnlich statisch wie der Beginn. Es ist die Grabesszene. Der Leichnam Jesu bildet den horizontalen Abschluss des Bildes nach unten. Er ist türkis-blau verfärbt. Die Hände sind von der Marter der Kreuzigung verkrampft. Maria, die Mutter im blauem Mantel, neigt sich weinend dem Toten zu. Ihr Heiligenschein wird aus den sieben Schwertern, welche die sieben Schmerzen Mariens symbolisieren, gebildet. Die Grablegung Christi, die hier dargestellt ist, ist der siebte Schmerz. Daher sticht dieses ganz linke Schwert Maria direkt ins Herz.

Letztes Bild. Foto: Michael Raub.

Die anfangs in den Raum gestellte Vermutung, die unterschiedliche Datierung der Bilder habe etwas mit Ackermanns Biografie zu tun, könnte stimmen. Ackermann hatte den 1955 begonnenen Kreuzweg noch nicht vollendet, als er sich im November 1956 bei einem Fahrradunfall die rechte Hand brach. Die Rekonvaleszenz war schwierig und zog sich über zwei Jahre hin. Da Ackermann seine rechte Hand nach dem Unfall nicht wieder nutzen konnte wie davor, schulte er auf links um. Er übte so lange mit der anderen Hand Schreiben und Zeichnen, bis er schließlich seine Arbeit wiederaufnehmen konnte. 1959 beendete er dann die Arbeit an diesem Kreuzweg. Dass Ackermann trotz dieser Schwierigkeiten und möglicherweise wohlwissend um die Ablehnung des Ganzen durch den Auftraggeber weiter arbeitete, zeigt, wie sehr er das Projekt liebte. Es entsprach in der Verbindung von Sprache und Bildern seinen Neigungen und Talenten ideal.