In der aktuellen Ausstellung „Pokal und Sixpack – Sport in der Industriegesellschaft“ des Uhrenindustriemuseums wird mit einem Augenzwinkern gefragt: „Ist Turnen Sport?“ und die meisten Menschen würden heute wohl ohne zu zögern mit einem „Ja“ antworten. Vor etwa 120 Jahren wären die Antworten aber sicher nicht so eindeutig ausgefallen. Um 1900 gab es nämlich durchaus schroffe, gar ideologisch gefärbte Gegensätze zwischen der Turnerschaft und den Anhängern der sogenannten „english sports“, also z.B. Fußball, Tennis, Hockey oder Golf. Differenzen gab es nicht nur in der Art und Weise der Ausübung der jeweiligen Freizeitbeschäftigung und ihren soziokulturellen Ausprägungen, sondern auch bezüglich der jeweiligen ideellen Hintergründe und Grundlagen. Im Turnen stand lange Zeit und historisch gewachsen die körperliche Ertüchtigung (nicht zuletzt auch zu kriegerischen Zwecken) und dabei das Miteinander im Mittelpunkt, während in den als „Sport“ bezeichneten Spielformen der reglementierte Wettkampf, das Konkurrenzprinzip und völkerverbindende Elemente dominierte. Vor allem nationalistisch gefärbte Vorurteile von einigen Vertretern der Turnerschaft führten zu polemischen Schlagabtauschen mit den „Sportlern“. Mittlerweile spielen solche Kontroversen im öffentlichen Diskurs keine Rolle mehr. Das Turnen hat sich dem Sport weitgehend angepasst, ist in seinen verschiedenen Disziplinen auch längst olympisch geworden, wobei bemerkenswert ist, dass bei der ersten Olympiade der Moderne 1896 in Athen die Deutsche Turnerschaft gegen eine Teilnahme ihrer Turner war.

Turner mit Lorbeerkränzen vor Bürk-Turnhalle, 1909 (Festschrift Turngemeinde Schwenningen, 1909)

Der Autor dieser Zeilen gehört zu einer Generation, die in ihrer Schulzeit letzte Echos der Kontroversen zwischen Turnen und Sport vernahmen. In Zeugnissen war noch von „Leibesübungen“ die Rede, erst um 1980 dann von „Sport“. Wikipedia konstatiert, daß seit den ausgehenden 1970ern der „Turnlehrer zum Sportlehrer, die Turnhalle zur Sporthalle, der Turnschuh zum Sportschuh“ mutierte. So konnte auch im neuen Jahrtausend das Schimpfwort „Turnbeutelvergesser“ einen ebenso retrohaften Charme entfalten, wie das Sportfeuilleton der TAZ, ironisierend betitelt als „Leibesübungen“ (seit 1983). Der Autor jedenfalls übte seinen Leib im Schulunterricht in den 1970ern als Mitglied von Riege 2 in der Villinger Jahn-Turnhalle (vormals Firma Hollerith bzw. Saalbau des Gasthauses Engel). Übungsleiter war Karl Joggerst, stadtbekanntes Mitglied des Villinger Turnvereins. Fußballspielen war nicht erlaubt; ausschließlich Geräteturnen und Leichtathletik stand auf dem Lehrplan. Das änderte sich allerdings um 1980 tiefgreifend. Fußball wurde notenrelevant. Bauliche Relikte der Zeit, als das Turnen noch vor bzw. neben den aus England stammenden Sportarten eine ganz eigene, bedeutende Kulturform darstellte, finden sich aber auch heute noch in Villingen-Schwenningen.

Schulturn-Gruppe vor der Bürk-Turnhalle, 1958 (Festschrift Turngemeinde Schwenningen 1959)

Ähnlich wie das Gebäude, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Jahn-Turnhalle genutzt wurde, entstand die Bürk-Turnhalle in Schwenningen in Zeiten wirtschaftlicher Höhenflüge um 1900. Sie wurde auch durch industrielle Initiative ins Leben gerufen und hat eine längere (Vor-)Geschichte, die hier kurz rekapituliert werden soll. Die 1859 von dem bedeutenden Unternehmer und Politiker Johannes Bürk mitgegründete Turngemeinde Schwenningen besaß jahrzehntelang keine eigenen Räume. Bis zur Fertigstellung einer eigenen Turnhalle im Jahr 1894 mussten die Turner mit allerlei Provisorien leben. Bis 1864 übten sie in den Sälen verschiedener Gaststätten, ja sogar in einer „Faßremise“ (Kronenkeller). Danach konnte immerhin die Scheuer des Turners Friedrich Mehne gepachtet werden, später dann die Remise der aufgegebenen Saline; dort gab es allerdings keine Möglichkeit der Lagerung von Geräten. Es wird von Gänsemärschen der Turner durch dunkle Winternächte berichtet, der Vereinsdiener mit Stalllaterne an der Spitze, ihm folgend die Turner mit Sprungständer, Klettertau, Sprungschnur, Reckstange, Kugel und Stein. Im Sommer übte man auf einem Turnplatz von 12 x 15 Metern Fläche in der Nähe der alten Eisbahn an der Schützenstraße mit Feuerwehrsteigerturm und feststehendem Reck, feststehenden, selbstgezimmerten Barren und 2 Sprungständern. In den 1870ern fand der Winterbetrieb im Schulhaus statt, dessen Räume aber eigentlich zu niedrig waren. Dies besserte sich 1889, als der Turnbruder und neue Schwenninger Schulheiß David Würth die Nutzung der leerstehenden Zehntscheuer als Übungsraum genehmigte.

Portraits Vorstand Turngemeinde Schwenningen, 1909 (Festschrift Turngemeinde Schwenningen, 1909)

Da sich die Turner mit dem Improvisieren wohl nie anfreunden konnten, sparten sie schon seit 1879 für einen Neubau. 1881 wurde ein Plan mit Kostenvoranschlag zu einem Hallenbau auf dem ehemaligen Salinenfeld gemacht. Dieser kam jedoch nicht zur Ausführung, weil die finanziellen Belastungen als zu hoch erachtet wurden. Bewegung kam erst wieder in das Projekt, als Anfang der 1890er Richard Bürk, Nachfolger seines Vaters Johannes sowohl in der Leitung der Württembergischen Uhrenfabrik als auch in der Leitung der Turngemeinde, einen Bauplatz kostenfrei zur Verfügung stellte. Zudem ließ er eine „Turneruhr“ entwerfen, die in seiner Fabrik in Serie ging und deren Verkaufserlös er zur Finanzierung des Turnhallenbaus stiftete.

Turneruhr der Württembergischen Uhrenfabrik (Neher, 1956, S. 42)

Zusammen mit den Finanzmitteln, die die Turngemeinde (TG) einbringen konnte, bildeten diese Werte etwa 62% der Gesamtkosten für Turnhallenbau und Grundstück. Im August 1893 erfolgte der Baubeschluss durch den Schwenninger Gemeinderat. Die Gemeinde Schwenningen trug ca. 38% der Baukosten und durfte dafür die Halle für das Schulturnen nutzen. Zusammenfassend kann die neue Turnhalle somit als eine beachtliche Gemeinschaftsleistung angesehen werden. Auch wenn Richard Bürk entscheidenden Anteil hatte, wäre das Projekt ohne die Sparleistungen und das Engagement der gesamten Turnerschaft und den Beitrag der Gemeinde Schwenningen nicht realisiert worden. Eine zweite Stiftung Richard Bürks ermöglichte später noch den Anbau einer Wohnung sowie von Waschräumen und eines Turnplatzes (unmittelbar südlich der Halle).

Bürk-Turnhalle vor 1898 (Stadtarchiv Villingen-Schwenningen SAVS 5.22.1036)

1894 jedenfalls konnte die Halle mit festlicher Untermalung von Musikverein, Liederkranz und MGV Frohsinn an ihrem Standort unweit der Württembergischen Uhrenfabrik, am Rand des damaligen Dorfes Schwenningen, eingeweiht werden. Der Hallenbau selbst war gekennzeichnet durch Wände in Sichtfachwerk und den markanten, halb in die westliche Giebelwand integrierten, viergeschossigen Steigerturm. Am Steigerturm übten die Feuerwehrmänner, die schon seit Johannes Bürks Zeiten meist auch in der Turngemeinde Mitglied waren, mit tragbaren Leitern das Erreichen höhergelegener Geschosse und den Sprung ins aufgehaltene Tuch. Außerdem wurden hier die Feuerwehrschläuche zum Trocknen aufgehängt. Das Gemeinschaftsprojekt Feuerwehr traf sich hier glücklich mit dem Gemeinschaftsprojekt Turnen.

Turner an Pferden an der Bürk-Turnhalle (Festschrift Turngemeinde Schwenningen, 1909)

Auch die weitere Geschichte der Bürk-Turnhalle ist stark vom Gedanken der Gemeinschaft, dem Vereins- und Kulturleben geprägt. Schon 1898 erfolgte eine nochmalige Erweiterung der Halle um 12 Meter nach Osten zur Aufnahme einer Bühne. Anlass war das 4. Badische (sic!) Schwarzwaldgau-Sängerfest in Schwenningen am 14.8.1898, organisiert durch die Turnermusik (gegr. 1896, später eigenständiger Musikverein „Concordia“) und den Musikverein Schwenningen, für welches geeignete Räumlichkeiten benötigt wurden. Das rege Vereins- und Kulturleben der industriellen Boom-Gemeinde Schwenningen erzeugte aber auch jenseits des Sängerfestes einen Bedarf an angemessenen Räumen, die mit der erweiterten Halle nun zur Verfügung standen. Ein Jahr nach dem württembergisch-badischen Gemeinschaftsevent der Sänger veranstaltete man das Turnfest des oberen Schwarzwaldgaus und 1901 in und an der Turnhalle gar das große Schwäbische Turnfest. Hierfür wurde auf dem Gelände südlich der Turnhalle zusätzlich eine riesige Festhalle errichtet. Weitere Gauturnfeste, 1927 dann auch der „Gausporttag“, folgten. 1912 war allerdings schon die Umwandlung der Bühne in der Turnhalle zu (heute noch bestehenden) größeren Umkleideräumen und einer Wohnung im 1. Stock erfolgt.

Bürk-Turnhalle beim Landesturnfest 1901 (Schreiber/R. Lucius? In: Festschrift Turngemeinde Schwenningen, 1959)

Mit der Nutzung der neuen TG-Sportstätte am Waldeck seit Ende der 1920er Jahre wurde es um die Bürk-Turnhalle etwas ruhiger. Der gestiegene Bedarf an größeren Freiflächen sowie einer Aschenbahn für die auch unter den Turnern zunehmend beliebten „Sport“-Arten Leichtathletik, Fußball oder Handball bewegte die Turngemeinde dazu, die neue Sportstätte am Waldeck zu errichten. Dies bedeutete nicht, dass die Bürk-Turnhalle in Vergessenheit geriet. Ihre Nutzung wandelte sich allerdings mit den stetigen Veränderungen des Turn- und Sportlebens. Die Grundrisspläne der Halle vom 19.11.1973 weisen so z.B. die exakt vermessenen Linien für Felder zum Basketball- und Handballspielen auf, wie sie auch heute noch vorhanden sind.

Bürk-Turnhalle innen, 2020 (Uhrenindustriemuseum/Ralf Ketterer)

Die Tischtennis-Abteilung der Turngemeinde, die FSV-Integrationssportgruppe oder der Schulsport sind nur einige Beispiele für die heutige Nutzung der Halle. Außerdem wird sie regelmäßig für Fasnachtsveranstaltungen in Szene gesetzt, womit ihre Funktion als Schauplatz auch kultureller Aktivitäten seit ihrer Erbauung Kontinuität hat. Die Halle ist seit 1991 denkmalgeschützt und in ihrer ursprünglichen Substanz (mit Ausnahme der Fenster und des Bodens) weitgehend erhalten; sie besitzt sogar noch originale Aufhängungen für Rundlauf, eine um 1900 sehr beliebte Form der Leibesübungen.

Rundlauf (www.quagga-illustrations.de)

Im Außenbereich der Bürk-Turnhalle hat sich hingegen einiges verändert: Wo früher einmal Freiturngeräte installiert waren, befindet sich heute ein moderner Sportplatz mit feststehenden Handballtoren. Auf dem südlichen Dachteil der Halle speist eine Solaranlage des Vereins renergie VS Strom ins städtische Netz ein. Nach wie vor ist die Halle aber ein lebendiger Ort der sportlichen Betätigung, des Kulturlebens, der Gemeinschaft und dabei ein wichtiges Denkmal der Geschichte des Sports und unserer Industriegesellschaft.

Bürk-Turnhalle von Süden, 2020 (Uhrenindustriemuseum/Ralf Ketterer)

Literatur und Quellen

Eisenberg, Christiane: „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800 – 1939, Paderborn und München 1999

Festschrift zur Feier des 50-jährigen Bestehens der Turngemeinde Schwenningen 1859 – 1909, Schwenningen 1909, Stadtarchiv Villingen-Schwenningen SAVS 5.22.1036

1859 – 1959. 100 Jahre Turngemeinde Schwenningen, Schwenningen 1959, Stadtarchiv Villingen-Schwenningen SAVS 1.42.23

Neher, F.L.: Johannes Bürk ein schwäbischer Wegbereiter industrieller Fertigung, Schwenningen 1956
Wikipedia-Artikel Turnen

Stadtchronik Bestand Turngemeinde Schwenningen e.V., Stadtarchiv Villingen-Schwenningen SAVS 5.22.235, 236, 1032 und 1036

Kopien von Grundrissplänen zur Bürk-Turnhalle, Amt für Jugend, Bildung, Integration und Sport Villingen-Schwenningen

Landesamt für Denkmalpflege: Liste der Kulturdenkmale in Baden-Württemberg Teil A1, Regierungsbezirk: Freiburg, Stand: 1991,

Land-/Stadtkreis: Schwarzwald-Baar-Kreis, Gemeinde: Villingen-Schwenningen, Gemarkung: Schwenningen, Ortsteil/Wohnplatz: Schwenningen, Straße/Hausnr.: Bürkstraße 63, 65 Objekt:
Bürk-Turnhalle