Bereits im letzten Blog-Artikel zu den drei Frauenporträts von Waldemar Flaig wurde deutlich, dass der Villinger bzw. Meersburger Künstler einen großen und interessanten Bekanntenkreis hatte. Mit seinen Modellen verband ihn meist mehr als eine Maler-Modell- oder gar Auftragnehmer-Auftraggeber-Beziehung. In der „kleinen Welt“ rund um den Bodenseeort lebten Menschen, die damals schon zur Bohème zählten oder es danach wurden. Heute mit einer Fülle an neuen Medien, nicht zuletzt im Internet, und einem raschen Austausch an Informationen fragt man sich, woher kannten sie sich, wo trafen sie aufeinander, was hat sie verbunden? Manches bleibt dabei spekulativ.
Beginnen wir mit dem Selbstporträt von Flaig aus dem Jahr 1922, das bereits im Blog-Artikel zur „Künstlerwährung“ eine Rolle spielte. Es zeigt Waldemar Flaig als Rekonvaleszenten. Zeitlebens war Flaig anfällig für Erkältungen. Seine Atelierwohnung in Meersburg, das Alte Schloss, war nicht beheizbar. Im Winter zog Flaig mit seiner kleinen Familie daher in beheizte Wohnungen in größeren Städten, natürlich auch um den Verkauf seiner Bilder anzuregen. Eine dieser Städte war im Winter 1924/25 Düsseldorf. Hier gab es um die Galeristin Johanna Ey einen Kreis zeitgenössischer Künstler. Bei „Mutter Ey“ lernte Flaig Tatjana Barbakoff kennen und ebenfalls den Maler Gert Wollheim, der später Tatjanas zweiter Mann wurde. Den Tipp, nach Düsseldorf zu kommen, soll Flaig von Otto Dix erhalten haben [1], den Flaig von dessen Aufenthalten in Radolfzell kannte. Wie kam aber Dix nach Düsseldorf?
Dix lebte in Dresden, wo er studiert hatte, und erhielt über seinen Lehrer und Freund Conrad Felixmüller 1921 einen Porträtauftrag – seinen ersten – in Düsseldorf. Mittel- und namenlos reiste Dix dorthin und zog als Untermieter ins Hinterzimmer der Galerie Ey. Der Auftraggeber war ein Düsseldorfer Arzt und einflußreicher Kunstmäzen, Dr. Hans Koch. Dix stellte Koch in seinem Halbfigurenporträt so abstoßend dar, dass dies zum Fanal, und Dix schlagartig bekannt wurde. Pikanterweise verliebte er sich zudem in Kochs Ehefrau Martha, die sich scheiden ließ, um Dix 1923 zu heiraten. Obwohl sich Dix also mit dem überzeichneten, grottesken Bild seines Nebenbuhlers wenig empfahl, sollte er im weiteren Verlauf seiner Karriere ein begehrter Porträtist werden. Außerdem begann er während seines vierjährigen Aufenthalts, Skizzen, die er an der Front gemacht hatte, zu drastischen, aufsehenerregenden Gemälden zu gestalten. In der Zeit im Rheinland wurde Dix zum „enfant terrible“ der deutschen Kunstszene.
Flaig (*1892) und Dix (*1891) waren ungefähr gleich alt. Beide waren im Ersten Weltkrieg im Fronteinsatz und verarbeiteten die erlebten Kriegsgräuel mit den Mitteln ihrer Kunst. Die traumatischen Erinnerungen nahmen bei Dix die Gestalt schockierend realistischer Bilder an: malträtierte Körper in Stacheldraht, Leichen auf Bäumen und in Granattrichtern. Ähnliche Darstellungen gibt es von Flaig.
Er hatte ein Kriegstagebuch geführt mit Zeichnungen und Aquarellen. Auch er war von diesen Erlebnissen für sein Leben „gezeichnet“.
1924, wahrscheinlich während Flaigs winterlichem Aufenthalt in Düsseldorf, porträtierte er den Malerfreund in Halbfigur.
Dix trägt einen Anzug, weißes Hemd und Fliege. Er wirkt äußerst gepflegt, ganz anders als der angeblich morphiumsüchtige Dr. Koch, der unrasiert, häßlich und „hemdsärmlig“ dargestellt ist. Aus schmalen Augen blickt Dix den Betrachter an. Die Hände sind ineinander verschränkt. Dix wirkt kühl, reserviert, wenn nicht gar ablehnend. Die Schrägen des Hintergrunds verleihen dem Porträt ein Moment der Unsicherheit: Es ist, als ob dem Betrachter der Boden unter den Füßen weggezogen würde und alles ins Kippen geriete. Dix sagte über seine eigene Porträtkunst, dass er sich nur auf das Äußere konzentriere, keine Lust habe, sich mit dem Inneren, dem Charakter des Porträtierten zu befassen. Im Äußeren würde sowieso das Innere offenbar. Wenngleich sich Flaig und Dix in ihrer Art des Porträtierens stark unterscheiden, scheinen sie sich hierin einig. Die „Oberflächlichkeit“ von Dix – also die Tatsache, dass er auf seine äußere Erscheinung viel Wert legte – bestätigten Zeitgenossen. Johanna Ey, die Düsseldorfer Galeristin, berichtete über Dix: „Er kam mit fliegenden Capes, großem Hut und begrüsste mich mit Handkuss, für mich damals etwas sehr Außergewöhnliches“ und über seine Habseligkeiten, die er in einem Pappkarton mit sich führte: „Lackschuhe, Parfüms, Haarhaube und weitere Accessoires für die Schönheitspflege“ [2]. Flaig hat also seinen Gegenstand gut getroffen: das markante Gesicht, die blonden Augenbrauen, das dandyhafte Auftreten. Flaig sieht Dix sehr klar, seine Vorliebe für das Formelle, den schönen Schein. Was empfand Flaig für den Künstlerkollegen? Sicherlich Hochachtung, wahrscheinlich Sympathie, möglicherweise milde Kritik. Flaig beobachtete dessen weiteren Lebensweg, schrieb 1926 aus Dessau wohlwollend in einem Brief an das befreundete Ehepaar Leiner in Konstanz: „Dix ist vor einiger Zeit für Kokoschka Professor in Dresden geworden. Es kann einen ehrlich freuen“ [3]. Wahrscheinlich hätten sich Flaig und Dix wieder häufiger gesehen, als Dix nach 1933 an den Bodensee zog. Allerdings starb Flaig bereits ein Jahr davor.
Ein weiteres Porträt Waldemar Flaigs zeigt den Schriftsteller und Journalisten Norbert Jacques, der ursprünglich aus Luxemburg stammte und zeitlebens zwischen deutschen Metropolen wie Hamburg, Berlin, Frankfurt und ländlichen Domizilen rund um den Bodensee pendelte. Norbert Jacques war 12 Jahre älter als Flaig, 1880 geboren. Berühmt wurde er mit seinem Roman „Dr. Mabuse, der Spieler“ (1920), den Fritz Lang 1922 verfilmte. Die Idee zu dieser Figur kam ihm bei der Überfahrt mit der Fähre von Lindau nach Konstanz in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Inflation in dieser Grenzregion zu einem blühenden Schwarzhandel führte. Am Bodensee gründete er 1925 mit 11 Gleichgesinnten die Künstlervereinigung „Der Kreis“. Flaig war einer davon, Jacques übernahm den Vorsitz. Als Ziel formulierte er: „Die Pflege der bildenden Kunst und zwar im Bewusstsein der alten Volks- und Kultureinheit des westlichen oberdeutschen Kulturgebiets ohne Beachtung der bestehenden politischen Landesgrenzen, staatspolitische und unduldsame völkische Ziele sind ausgeschlossen […] [4]. Zum Entstehungszeitpunkt des Porträts, 1927, kannten sich Jacques und Flaig also bereits. Was hat die beiden so unterschiedlichen Persönlichkeiten verbunden, außer die Liebe zur Kunst? Jacques war ein Abenteurer, besessen von Ferne und Fremde. Er reiste ausgiebig, einmal auch um die Welt, und war dreimal verheiratet. Dennoch liebte er das Landleben, er kam ja selbst „aus der Provinz“. Auch hatte er ein zwiespältiges Verhältnis zur Heimat (ähnlich wie Flaig), – möglich, dass Sie sich darüber ausgetauscht und ähnlich empfunden haben. Flaig und Jacques begegneten sich wahrscheinlich bei den Schmidt-Pechts in Konstanz, – ein Künstlerpaar, das eine Art „Salon“ im „Haus zur Katz“ unterhielt. Elisabeth Schmidt-Pecht war Keramikerin, Heinrich Schmidt-Pecht bis 1945 ehrenamtlicher Leiter der Wessenberggalerie. Die Wessenberggalerie erwarb 1926 ein Porträt Flaigs von Tatjana Barbakoff, das heute verschollen ist (es wurde als „entartet“ konfisziert). Möglich wäre auch eine erste Begegnung in Berlin, zum Beispiel im „Romanischen Café“. Es lag in der Nähe des Kurfürstendamms und war ein Künstlertreffpunkt. Hier verkehrten unter vielen Sonja Kogan, Tatjana Barbakoff, Norbert Jacques und wahrscheinlich auch Waldemar Flaig.
Das Porträt ist als Brustbild gearbeitet. Jacques trägt eine reverslose Jacke und einen weißen Schal um den Hals. Er gleicht in diesem lässig-künstlerischen Habit Waldemar Flaig auf seinem Selbstporträt von 1922. Jacques´ Haar ist bereits ergraut, er war zu dieser Zeit 46 Jahre alt. Charakteristisch sind seine nach oben außen gebürsteten Augenbrauen, die ihm einen ständig skeptischen oder gar diabolischen Blick geben. Fotografien aus der Zeit zeigen wie bei bei dem Porträt von Dix eine starke Ähnlichkeit des Gemäldes mit der dargestellten Person.
Über Flaig sagte der Maler Hans Dieter, der im Alten Schloss über ihm wohnte: „Er war kein Kaufmann“. Er scheint vor allem Menschen gemalt zu haben, die er bereits länger kannte. Es handelt sich um Freundinnen und Freunde, die aber die Porträts größtenteils nicht beauftragt haben und daher auch nicht erwarben. Als Künstler und Künstlerinnen hatten Sie vielleicht auch gar nicht die Mittel dazu. Die Porträts im Besitz des Franziskanermuseums kamen erst über den Nachlass der Familie Flaig in den 1970er Jahren in die Sammlung.
[1] Tatjana Barbakoff: Tänzerin und Muse, hrsg. v. Verein August Macke Haus e.V., Bonn 2002, S.20.
[2] http://www.eiskellerbergtv-archiv.de/allgemein-artikeldetail-txt/items/dr-koch-mutzi-und-der-maler-dix.html, 25.05.2021
[3] Brief vom 29.11.26, Privatbesitz.
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Kreis_(K%C3%BCnstlervereinigung_Bodenseegebiet), 25.05.2021