Waldemar Flaig wurde 1892 in Villingen geboren, lebte aber seit 1920 in Meersburg. Er war für seinen besonderen Porträtstil bekannt. Vielleicht ließen sich deshalb Künstler, Tänzerinnen und Schriftsteller von ihm darstellen. Manche traf er zuerst in den Metropolen Berlin oder Düsseldorf, wo er die Winter verbrachte, manche am Bodensee (wieder), wo er in seinem Atelier im Alten Schloss lebte und arbeitete. Es scheint ein Kreis von Menschen gewesen zu sein, die gemeinsame Ideale und Hoffnungen teilten. Man war befreundet, schrieb sich Briefe und sah sich bei kulturellen Anlässen. In den zwanziger Jahren machte die Frauenemanzipation einen Sprung nach vorn. 1918 erhielten Frauen das aktive und passive Wahlrecht. 1919 wurde in der Verfassung der Weimarer Republik die Geschlechtsvormundschaft abgeschafft. Bereits im Ersten Weltkrieg waren Frauen vermehrt erwerbstätig gewesen, da die männlichen Arbeitskräfte als Soldaten im Krieg kämpften. Seit 1900 studierten die ersten Frauen an Universitäten.

Was waren das für Frauen, die Waldemar Flaig porträtierte?

Waldemar Flaig, Sonja Kogan, um 1925, vineum bodensee, Foto: Vogel

Das Porträt von Sonja Kogan wird in die Zeit um 1925 datiert. Kogan war noch sehr jung. Sie muss ungefähr 17 Jahre alt gewesen sein. Flaig hatte sie wahrscheinlich in Konstanz kennengelernt, wo sich Kogan damals bei ihrer Mutter, Elsa Bugge, aufhielt. Diese versammelte um sich einen Kreis von Künstlern wie Wilhelm von Scholz, Karl Einhart und Walter Waentig, der die junge Frau ebenfalls mehrfach malte und zeichnete.

Kogan war ohne Eltern aufgewachsen. Ihr Vater war der russische Maler Iwan Kogan, der sich nach der Trennung von seiner Frau, Sonja Kogans Mutter, in seine Heimat zurückzog. Ihre Mutter überließ das Kind mit dreieinhalb Jahren der amerikanischen Ausdruckstänzerin Isadora Duncan zur Ausbildung. Nach Stationen mit deren Tanzkompagnie in Darmstadt und den USA kam Kogan nach dem Ersten Weltkrieg auf Tournee zurück nach Deutschland. Bei einer Aufführung im Insel-Hotel in Konstanz entdeckte sie der Intendant des Barmer Stadttheaters und engagierte sie als Solotänzerin. Nach einer ersten unglücklichen Ehe wurde sie im Berlin der zwanziger Jahre als „barfüßige Tänzerin“ berühmt und lernte dort  im „Romanischen Café“ verschiedene Künstler kennen: Bert Brecht, Ernst Toller, Max Liebermann und viele andere. Sie galt als außergewöhnliche Schönheit, die auch Liebermann porträtierte. In ihrer Autobiographie schreibt sie darüber: „Sechsmal besuchte ich ihn. Er arbeitete intensiv. Die Stunden vergingen schweigend. Ich durfte das Bild während dieser Besuche nicht sehen“ [1]. Liebermann wollte ihr das Bild schenken, aber sie nahm es nicht an, da sie sich zu kindlich dargestellt fühlte (das Porträt ist verschollen).

In ganz ähnlicher Pose malte sie Walter Waentig 1924, Foto: Privatarchiv Sonja Gaze

Der Ausdruckstanz, den Kogan von Isadora Duncan lernte, wandte sich gegen die Formalisierungen und Zwänge des klassischen Balletts. Man tanzte ohne Korsett und Schuhe, in leichten Kleidern und ohne Vorgaben das, was man fühlte und ausdrücken wollte. In dieser Intention glich der Ausdruckstanz der Kunstrichtung des Expressionismus. Zwischen Tänzerinnen und expressionistischen Künstlern gab es daher eine starke Affinität. Tänzerinnen waren nicht nur Musen und Modelle für Maler und Bildhauer. Auch die Tänzerinnen übernahmen Anregungen und Ideen aus der Kunst der Expressionisten. Der Ausdruckstanz steht heute für den kreativen Aufbruch der zwanziger Jahre und die gesellschaftliche Emanzipation in der Weimarer Republik. Er wurde 2021 von Deutschland als „immaterielles Kulturerbe“ bei der Unesco vorgeschlagen.

Man kann sich vorstellen, welches Aufsehen Kogan 1925 am Bodensee verursachte, sowohl mit ihrer Darstellungskunst als auch mit ihrem Aussehen. Kogan war groß gewachsen (über 1,80 m groß) und langbeinig. Flaig malte sie als junge Frau mit durchscheinend blasser Haut. Sie wirkt fragil, blickt aber dem Betrachter durchaus selbstbewusst direkt ins Gesicht.

Waldemar Flaig, Tatjana Barbakoff im chinesischen Kostüm, 1927, Franziskanermuseum, Foto: visual-artwork

1927 porträtierte Waldemar Flaig eine weitere Tänzerin, Tatjana Barbakoff (1899-1944). Ihr bürgerlicher Name war Cilly Edelberg. Im lettischen Libau geboren soll sie die Tochter eines Russen und einer Chinesin gewesen sein. Möglicherweise war letzteres eher eine Mutmaßung des Publikums, die sie durch gekonntes Schminken bewusst unterstützte. Das exotische Aussehen, das eine Gesellschaft reizvoll fand, die sich gerade kulturell international vernetzte, steigerte ihre Attraktivität zusätzlich. Obwohl sie als Kind Ballettunterricht hatte, war sie Autodidaktin in ihrer Form des Ausdruckstanzes, der als eher mimetisch beschrieben wird. Sie stellte Szenen dar, die sie „chinesische“ und „russische Tänze“ nannte und zu denen sie häufig selbst die farbenprächtigen Kostüme entwarf. Sie inspirierte viele Künstler und Fotografen mit ihrem außergewöhnlichen Habitus und ihrer besonderen Darstellungskunst. Sie sei die „meist dargestellte Frau Deutschlands“ [2] sagte eine Zeitgenossin über sie. Abgebildet wurde sie häufig mit expressiven Gebärden und im Bühnenkostüm.

Tatjana Barbakoff, 1929, Foto: Museum Ludwig/Sammlung Agfa

Den Maler Waldemar Flaig lernte sie entweder 1921/24 in Düsseldorf kennen, wo sie sich in einem Kreis expressionistischer Künstler um die Galeristin Johanna Ey bewegte, oder 1923 in Randegg am Bodensee im Hause Otto Dix. Jedenfalls entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den Ehepaaren Flaig und Barbakoff/Waldmann. Flaig porträtierte Barbakoff nicht nur mehrmals, er entwarf auch Plakate für ihre Auftritte in Konstanz und Zürich. War Barbakoff für einen Auftritt in der Nähe des Bodensees, übernachtete sie in Meersburg, so dass sich die Freunde vor oder nach der Vorstellung sehen konnten [3]. Flaig animierte sie wahrscheinlich auch zu ihrem ersten Auftritt 1925 in Berlin. Aus einem anschließenden Brief an das Ehepaar Flaig wird deutlich, dass der Abend ein voller Erfolg wurde. Eines der Flaig-Porträts von Barbakoff, das die Wessenberggalerie in Konstanz erworben hatte, wurde 1937 als „entartet“ beschlagnahmt und gilt seitdem als verschollen. Die Zeit von 1925 bis 1930 war der Höhepunkt in Barbakoffs Karriere, welcher der Nationalsozialismus ein Ende bereitete. Als Jüdin floh Barbakoff 1933 mit ihrem zweiten Mann, dem Düsseldorfer Maler Gert Wollheim, nach Paris. Sie wurde jedoch nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich in Gurs interniert und schließlich 1944 in Auschwitz ermordet.

Tatjana Barbakoff im chinesischen Kostüm, 1920er Jahre, Foto: Alexander Binder

Aus dem Nachlass Wollheim kam das „chinesische Kostüm“ auf dem Porträt des Franziskanermuseums in den Bestand des Stadtmuseums Düsseldorf, wo es sich heute noch befindet. Mit dem gestickten Pfau auf der Brust des tiefroten, asymmetrisch geschlossenen Oberteils ist es auch auf anderen Darstellungen leicht wieder zu erkennen. Es ist eines der aufwendigsten und dekorativsten Bühnenkleider von Barbakoff. Im Gegensatz zu anderen Darstellungen ruht Barbakoff auf diesem Bild völlig in sich selbst. Die Augen sind geschlossen, die Hände vor dem Körper ineinandergelegt. Sie kniet auf dem Boden und sitzt dabei auf ihren Fersen wie bei einer Yogaübung. Möglicherweise ist dies eine Anfangs- oder Endpose, aus der sie ihre Tanzbewegungen entwickelte oder in sie enden ließ. Diese Eigenheit zeichnete sie aus. Skulpturen von Ernst Barlach dienten ihr häufig als Vorbild für diese statuarischen Haltungen.

Waldemar Flaig, Harriet Straub, 1930, vineum bodensee, Foto: Vogel

Das dritte Porträt von Flaig in der Reihe der momentan im Franziskanermuseum ausgestellten Gemälde zeigt die Ärztin und Schriftstellerin Harriet Straub (1872-1945) im Jahre 1930. Harriet Straub war der Künstlername der mit dem Publizisten und Philosophen Fritz Mauthner verheirateten Hedwig Silles. Hedwig, die in Emmendingen geboren ist, hatte in Freiburg und Paris Medizin studiert und ging als erste Ärztin nach Afrika, um dort ein Gesundheitsprogramm für Beduininnen zu entwickeln [4]. Die fremde Kultur hat sie nicht nur beeindruckt, sondern sie nötigte ihr tiefen Respekt ab. Im Herzen fühlte sie sich als Beduinin, auch als sie nach Europa zurückkehrte. In Freiburg lernte sie den um 20 Jahre älteren Mauthner kennen, der ihre große Liebe wurde. Das Paar zog 1909 nach Meersburg, ins sogenannte „Glaserhäusle“. Angeregt von der publizistischen Arbeit Mauthners begann sie ihre eigenen Erinnerungen an die Zeit in Afrika in Erzählungen zu gestalten. Im Ersten Weltkrieg pflegte sie so engagiert Verwundete, dass sie selbst erkrankte.

Hedwig Silles alias Harriet Straub als Beduinin, um 1895, Foto: privat

Einen ersten schweren Schicksalsschlag erlebte sie durch die Ermordung des Schriftstellers Gustav Landauer 1919, mit dem das Paar befreundet war. Hedwig nahm die drei verwaisten Töchter Landauers vorübergehend bei sich auf. Möglicherweise bereits 1920 lernte sie das Ehepaar Flaig kennen, als dieses nach Meersburg zog. Die Außenseiterposition beider Paare im konservativen Milieu der Kleinstadt ließ sie wahrscheinlich Ähnliches erleben und empfinden. Jedenfalls entwickelte sich eine Freundschaft. 1923 starb Fritz Mauthner, was Hedwig in eine tiefe Depression stürzte. Hinzu kamen finanzielle Schwierigkeiten. 1930 schrieb sie über ihre Situation: „Wenn totale Lebensmüdigkeit eine Krankheit ist, dann bin ich eben ein sehr kranker Mensch. Da helfen alle guten Vorsätze nicht mehr“ [5].

Das Porträt zeigt die 68-Jährige auf einer Bank sitzend in ihrem Arbeits- oder Wohnzimmer mit einem seitlichen Bücherregal und einem Buch vor sich auf dem Tisch. Auffällig ist der sehr androgyne Kleidungsstil mit weißer Bluse, schwarzer Krawatte sowie schwarzer Jacke. Die Hände sind im Schoß verschränkt, rechts hält sie eine Zigarette, deren Rauch sich Richtung oberer Bildrand kringelt. Ihr nachdenklicher oder forschender Blick aus tief hängenden Lidern irritiert den Betrachter. Gehören die markanten Gesichtszüge mit der Kurzhaarfrisur einem Mann oder einer Frau?

Das Porträt zeigt eine weitere sehr selbstbewusste Frauenfigur. Während Kogan am Beginn ihrer Karriere und Barbakoff in der Blüte gezeigt werden, steht Hedwig Mauthner zwar nicht am Ende – sie lebt bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg -, aber in einer Phase des In-Sich-Gekehrtseins oder Rückblicks. Das Buch vor ihr, das die Tischkante überschneidet, also möglicherweise gerade abgelegt wurde, regt den Betrachter zu Phantasien über seinen Inhalt an: Vielleicht ist es ein Fotoalbum, vielleicht eines der Bücher, in denen Harriet Straub ihre Erinnerungen an ihren Sehnsuchtsort Afrika festhielt.



[1]  Sonia Gaze: Die barfüßige Tänzerin. Autobiographie, Berlin 2000, S. 70.

[2] Johanna Ey, zitiert nach: Tatjana Barbakoff. Tänzerin und Muse, hrsg. vom Verein August-Macke-Haus e.V., Bonn 2002, S. 89.

[3] wie [2], S. 23.

[4] Manfred Bosch: ‚Ins Freie will ich‘. Harriet Straub/Hedwig Mauthner und das ‚Glaserhäusle‘ in Meersburg, Spuren 33, Marbach 1996, S. 2 ff.

[5] wie [4], S. 11/12.

Die Ausstellung „Die Zwanziger Jahre im Spiegel der Villinger Künstler der Moderne“ wird bis 13. Juni 2021 im Franziskanermuseum gezeigt. Leider ist sie derzeit coronabedingt geschlossen. Kleiner Trost: Die drei Frauenporträts sind als Postkarten-Set in der Tourist-Info erhältlich. So kann sich jede/-r eine Mini-Ausstellung nach Hause holen.