Aus den Trümmern des 2. Weltkriegs entstanden die westdeutschen Städte in den 1950er Jahren zu einem erheblichen Teil neu. 1960 erschien eine erste Bestandsaufnahme über das in gut einem Jahrzehnt in der jungen Bundesrepublik an Wiederaufbau Geleistete. Der großformatige Bildband „Planen und Bauen im neuen Deutschland“ bietet auf 648 Seiten mit ca. 1500 Fotos „eine Auswahl dessen…, was … heute Anspruch auf Anerkennung und Beachtung erheben kann.“ Das monumentale Werk „möchte ein Zeugnis sein für unser Bemühen, einem modernen Lebensgefühl, auch in der Baugestaltung, gerecht zu werden.“ (Vorwort, S. 1) Mit dem Bund Deutscher Architekten BDA, dem Deutschen Architekten- und Ingenieurverband DAI und dem Bund Deutscher Garten- und Landschaftsarchitekten BDGA als Herausgebern kann es als eine Art offizielle Leistungsschau des ganzen Berufsstands gelten.
Alle heute längst zum anerkannten Kulturerbe aufgestiegenen Highlights der Architektur der 1950er Jahre sind selbstverständlich aufgeführt, so das „Dreischeibenhaus“ in Düsseldorf, der Stuttgarter Fernsehturm oder die „schwangere Auster“ am Rande des Berliner Tiergartens. Wirklich alle Bauaufgaben werden in repräsentativen Beispielen gezeigt, natürlich der Wohnungsbau von der Großsiedlung bis zum spektakulären Eigenheim, aber auch Autobahnbrücken und Flughäfen, Kirchen und Theater, Verwaltungs- und Industriebauten, Schulen und Krankenhäuser, Sportstätten und Friedhöfe.
Das „Mess-Hotel der französischen Stationierungsstreitkräfte“
Aus dem heutigen Stadtgebiet von Villingen-Schwenningen schaffte es nur ein einziger Bau in die Auswahl. Es ist überraschenderweise das „Mess-Hotel der französischen Stationierungsstreitkräfte“, wie es 1960 hieß, in der Pontarlierstraße, heute, wenn überhaupt, dann unter dem Namen „Maison de France“ bekannt.
1955 als bauliche Einheit mit Post und Kino errichtet, ist das ehemalige Offizierskasino der Mangin-Kaserne noch in manch anderer Hinsicht einzigartig: Ganz unmilitärisch wirken die drei asymmetrisch zu einander geordneten Bauten in den Stadtraum hinein. Sie vermitteln zwischen den hinter ihnen liegenden älteren Kasernenbauten und der gegenüberliegenden zivilen Wohnbebauung. Nirgendwo sonst als nur hier in Villingen bekam ein von der französischen Besatzungsmacht übernommener Kasernenkomplex eine neue Ausrichtung auch in Richtung der deutschen Zivilgesellschaft, die sich nicht allein auf die räumliche Lage beschränkte: Das französische Kino stand auch für Einheimische offen.
Einzigartig in Lage, Funktion, Qualität und Bedeutung
Mit ihrem an der damals zeitgenössischen Moderne orientierten Erscheinungsbild gehören die Neubauten an der Pontarlierstraße darüber hinaus zu den ersten militärischen Anlagen in Baden-Württemberg, die ein völlig anderes Erscheinungsbild haben, als es im Militärbau in Deutschland bis dahin üblich war. Insbesondere die „Maison de France“ hat mit ihren Außentreppen und ihrem spektakulären nierenförmigen Nebentreppenhaus besondere gestalterische Qualitäten. Neben einigen weiteren Beispielen in Freiburg zählt das Villinger Ensemble zu den wenigen durch die französische Besatzung nach 1945 neu errichteten und noch erhaltenen Repräsentationsbauten in ganz Baden-Württemberg.
Insgesamt dokumentieren die Bauten auch die Versöhnungsgeschichte der beiden Nationen Deutschland und Frankreich auf einzigartige Weise. In diesem Sinn sind sie weit mehr als „nur“ Zeugnisse für den Anschluss Villingens an die Nachkriegsmoderne. Im Zuge der Umnutzung des Mangin-Geländes werden sie hoffentlich bald aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen.