Das höchste Gebäude Villingen-Schwenningens

Zugegeben, es besitzt weder die altehrwürdige Anmut des Romäusturms, noch die gewagte Modernität des Neckartowers, doch bei seiner Errichtung 1964 war das Hochhaus am Berliner Platz in Villingen ein Meilenstein. Dass eine kleine Stadt mit 31.000 Einwohnern ein solch urban anmutendes Gebäude erhielt, war keineswegs eine Selbstverständlichkeit und wurde, so erzählen es Zeitzeugen, mit Stolz zur Kenntnis genommen. Noch heute ist das Hochhaus mit ca. 50 Metern das höchste Gebäude Villingen-Schwenningens – etliche Meter höher als der Schwenninger „Mini-Wolkenkratzer“.

Berliner Platz 1+2, VS-Villingen

„Neue Heimat“ und Bauen in der Nachkriegszeit

Initiiert wurde das Projekt von Ewald Merkle, dem Begründer der heutigen Baugenossenschaft Familienheim. Merkle hatte die Genossenschaft 1949 unter dem Namen „Neue Heimat“ mit Spendengeldern aus einer Bauhilfesammlung gegründet, um gegen die drängende Wohnungsnot der Nachkriegszeit vorzugehen. Diese akute Phase wurde in den 50ern weitgehend überwunden, sodass sich mit Beginn der 60er Jahre die Aufgaben der Genossenschaft wandelten: An die Stelle der bis dahin üblichen Siedlerhäuser traten vermehrt Mietwohnungen. Nicht zuletzt durch die Segnungen des Wirtschaftswunders konnten nun auch Großprojekte wie der Bau von Hochhäusern verwirklicht werden. Die in den 50ern noch überwiegenden – auch moralischen und ideologischen – Bedenken gegenüber Hochhausbauten wichen deutschlandweit einem wahren Boom. Hochhäuser ermöglichten eine große Zahl von Wohneinheiten bei geringer Bodenflächennutzung, wurden aber auch stilistisch mit Modernität und Urbanität assoziiert.

Ewald Merkle (links) mit einem Modell des Gebäudes, 1962 (© Familienheim)

Schöpfer des 4,5 Millionen Mark teuren „Zwillingsturms“ war Emil Obergfell, Freier Architekt aus Bad Dürrheim, der unter anderem auch die St. Konradskirche baute. 1963 war die Grundsteinlegung, ein Jahr später konnte der Bau mit 88 Wohneinheiten fertiggestellt werden. Er war integriert in die Wohnsiedlung „Goldenbühl“, die in dieser Zeit als typisches Vorstadtgebiet entstand. Prägend für solche Neubaugebiete waren noch immer die traumatischen Erfahrungen der Kriegsjahre. Anders als in den engen historischen Städten sollten die neuen Siedlungen, die dem in den 50ern entwickelten Ideal des „Wohnens im Grünen“ folgten, baulich aufgelockert sein. Wie am Goldenbühl stehen Hochhäuser daher häufig als singuläre Punktbauten umgeben von niedriger Bebauung mit weiten Zwischenräumen. Als weithin sichtbare Landmarken sollten sie, ähnlich wie Kirchtürme, identitätsstiftend wirken. Das gilt insbesondere für die Lage an der Bundesstraße 33, die dem Gebäude eine Repräsentativität verleiht, die es fast zum modernen Äquivalent eines Stadttors werden lässt. Die Entscheidung zum Bau eines Hochhauses an dieser exponierten Stelle kann durchaus als Bekenntnis zu einer modernen, urbanen Entwicklung verstanden werden. Seinerzeit war dieses Gebäude eine echte Attraktion: Besucher aus der ganzen Region kamen nach Villingen, um das „Schwarzwald-Hochhaus“ zu bestaunen.

Das Hochhaus im Bau, 1963 (© Familienheim)

Kühl von Außen, warm im Inneren

Nicht nur städtebaulich, auch architektonisch bewegte man sich auf der Höhe der Zeit: Die schlichte Rasterfassade und das Flachdach folgen den rationalistischen und konstruktivistischen Konventionen der Nachkriegsarchitektur. Plastische Differenzierung wird durch vor- und zurückspringende Bauglieder erreicht, was einem neuen Architekturgeschmack der frühen 60er entsprach. Das gilt auch für die brutalistische Verwendung von Sichtbeton, der zunächst komplett grau blieb, später einen weißen und schließlich den heutigen gelbbraunen Anstrich erhielt. Ein neuer Wohlstand drückt sich in den großzügigen Wohnungen und modernen Raumzuschnitten aus, eine Zentralheizung ersetzte die bis dahin übliche Ofenheizung. Von Anfang an waren die Wohnungen begehrt und sind es bis heute geblieben.

Nach der Fertigstellung, 1964 (© Familienheim)

Ein weiteres Novum der 60er-Jahre war eine stärkere Berücksichtigung sozialer Aspekte. Der baulichen Auflockerung stand eine funktionale und soziale Verdichtung gegenüber, wie sie sich am Berliner Platz durch die Integration zweier Supermärkte und eines eigenen Hochhauscafés mit Bowlingbahn zeigte. Neben den Privat- gab es auch zahlreiche Werkswohnungen; so hatte etwa Architekt Obergfell selbst sein Büro, aus dem viele heute renommierte Architekten der Region hervorgingen, in den obersten Etagen. Die Identifikation mit dem Wohnumfeld und die Kontaktpflege sollten durch solche Nutzungsdurchmischungen erleichtert werden. Die Tradition des Supermarkts endete mit der Schließung der Schlecker-Filiale im Jahr 2012, heute befindet sich an dieser Stelle ein Modegeschäft. Das Hochhaus-Café wiederum musste einem Asia-Restaurant weichen. Einst diskutierte Pläne für einen Concièrge-Service nach Art eines Hotels im Foyer, das den Quartiersgedanken weitergetragen hätte, wurden mangels Nachfrage nicht realisiert. Auch Ideen für eine große Geburtstagsfeier zum 50-jährigen Bestehen, die vom Feuerwerk bis zum Open-Air-Kino reichten, konnten wegen einer möglichen Verkehrsgefährdung auf der nahen B33 nicht umgesetzt werden.  Für Sebastian Merkle, Enkel des Gründers und heutiger Geschäftsführer der Baugenossenschaft, ist das Gebäude dennoch etwas ganz Besonderes. Fast ehrfurchtsvoll spricht man in seinem Team nur von „dem Hochhaus“, wenn der Berliner Platz gemeint ist.

Erst allmählich werden viele der oft geschmähten, oft missachteten Bauwerke der 50er und 60er Jahre als Identitätsmerkmale verstanden. Das Hochhaus am Berliner Platz ist zumindest für das Wohngebiet Goldenbühl ein prägender Bau, dessen besondere Lage und große Höhe ihn zu einem Aushängeschild für ganz VS machen. Zum 50. Geburtstag wurde das Gebäude in der Presse gar als „Wahrzeichen“ tituliert – späte Ehre für einen alten Riesen.

Herzlichen Dank an Sebastian Merkle von der Baugenossenschaft Familienheim für Information & Unterstützung.