Wir leben in einer streng durchbürokratisierten Leistungsgesellschaft, in der uns Verfassungen, Gesetze und Verordnungen, Zeitvorgaben und Termine genau vorgeben, „wie das Spiel läuft“. Wie im Sport Spielregeln und normierte Spielgeräte menschliche Bewegungen in exakte Bahnen lenken, sind im „echten Leben“ Handlungsspielräume genau eingegrenzt. Damit ist die Moderne äußerst erfolgreich. Sich an klare Regeln zu halten, ist auch die Grundvoraussetzung unserer Freiheiten. Die Beherrschung der Gesellschaft wie des Körpers ist – oder schien – so gesichert wie nie zuvor. Das verlangt allerdings auch eisernen Willen und Selbstdisziplin. Gerade im Leistungssport wird dieses Prinzip exemplarisch verkörpert, medial verstärkt und gefeiert. Von dieser Erfolgsgeschichte berichtet die Ausstellung „Pokal und Sixpack. Sport in der Industriegesellschaft“ im Uhrenindustriemuseum Villingen-Schwenningen.
Und doch bietet ausgerechnet der Sport eine keineswegs kleine und keineswegs nebensächliche Nische, in der das alles keine Rolle zu spielen scheint. Sporthelden sind weit mehr als die Erfüller einer erwartbaren Leistung. „Sie sind“, wie der Sportwissenschaftler Gunter Gebauer emphatisch formuliert, „in der Mythologie des Athleten aus den hektischen Konkurrenzen und Vergleichen herausgenommen…, der Athlet verwandelt sich beim Überschreiten der gültigen menschlichen Grenzen, beim Weltrekord, in eine neue Natur und bei der Eintragung in die ‚ewige Siegerliste‘ Olympias in einen Unsterblichen.“ [1] Sportfans wiederum verhalten sich vollkommen irrational in ihrer Heldenverehrung. Ihre Identifikation mit ihrem Verein, ihrem Star gleicht einer Besessenheit. Überwältigende Gefühle, egal ob bei Sieg oder Niederlage, unverbrüchliche Treue – selbst in der schlimmsten Krise – und viele weitere längst außer Kurs geratene Tugenden bilden eine Gegenwelt zum rationalen Alltag. Fans sind darüber hinaus bisweilen ausgrenzend, aggressiv, gewalttätig. Manche benehmen sich daneben, achten gerade nicht auf Regeln und stören ganz gewaltig.
Wie ist das zu erklären? In einem suggestiven, vom französischen Philosophen Michel Serres übernommenen Bild versucht der Sportwissenschaftler Karl-Heinrich Bette das Verhältnis zwischen dem Sporthelden-Fan-Phänomen und der Leistungsgesellschaft zu fassen. Es stünde zwar in Opposition zur Gesellschaft, würde aber „als eingeschlossenes ausgeschlossenes Drittes“ behandelt: „Der Parasit wird gleichsam an einen eigenen, eigens für ihn reservierten Tisch gesetzt und darf dort seine Mahlzeit nach Maßgabe seiner alternativen Eßkultur vereinnahmen. Er schmarotzt, schaut herüber, stört bisweilen durch seinen Lärm, gefährdet aber insgesamt nicht das Königsmahl seiner Gastgeber.“ [2]
Doch woher kommt dieses offenbar vollkommen „unmoderne“ Verhalten? Welcher „Eßkultur“ fühlen sich die Akteure verpflichtet? Erinnern Sie sich noch an Franck Ribéry? Den Sturm der Entrüstung, den der Star des FC Bayern München auslöste, als er 2019 ein Video von sich und einem vergoldeten Steak postete, das er für 1.200 Euro verzehrte? An die Antwort, die er seinen Kritikern per Tweet entgegen schleuderte? „Ich schulde Euch nichts, meinen Erfolg verdanke ich vor allem Gott, mir und meinen Nächsten, die an mich geglaubt haben. Für die Anderen: Ihr seid nichts als Steinchen in meinen Socken.“ [3] Das war großartig und absolut stilsicher: Der zeichenhafte Glanz des Goldes, demonstrative Verschwendung, Gottesgnadentum, aristokratischer Hochmut und Gefolgschaftsbildung sowie die damit verbundene Ausgrenzung aller, die nicht dazu gehören, weisen klar den Weg in eine weit archaischere Gesellschaft, aus der viele Symbole und Rituale des Sports stammen. In einem Vortrag, der hoffentlich am 14. April in der Neckarhalle stattfinden kann, möchte ich diesem „Kulturtransfer“ nachgehen.
Als erster, ganz grundsätzlicher Einstieg sei hier auf die Metaphorik des Glanzes eingegangen, ohne die keine Sportberichterstattung auskommt. „Strahlende“ Sieger haben „glänzende“ oder „glanzvolle“ Leistungen vollbracht. Sie haben eine besondere „Ausstrahlung“ und werden dadurch zu „Stars“. Gold ist die Farbe des Sieges, der Medaillen, der Kränze und Pokale. Ein Blick in die Ausstellung „Pokal und Sixpack. Sport in der Industriegesellschaft“ des Uhrenindustriemuseums macht das deutlich.
Seit der Antike ist die Vorstellung verbreitet, göttliche Sippen hätten ein besonderes Charisma, das im äußeren Glanz zur Erscheinung komme. Das prominenteste Beispiel ist niemand anderer als Jesus. Auch er „glänzte“, als er mit Petrus, Jakobus und Johannes als Zeugen auf einem hohen Berg betete: „Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.“ (Matth. 17, 2) Jesus selbst stellt diese „Erscheinung“ in den Zusammenhang mit seiner späteren Auferstehung. Die Jünger sehen an diesem Glanz erstmals seine göttliche Herrlichkeit. Die Heiligenscheine, die auf mittelalterlichen Bildern den Kopf der Heiligenbilder umgeben, gehören in denselben Zusammenhang sichtbarer äußerer Erscheinungen inneren göttlichen Glanzes. Auf dem Bildteppich mit der „Verklärung Christi“ von ca. 1490 aus dem Franziskanermuseum sind beide Phänomene zusammen zu sehen.
Zahllose Beispiele lassen sich auch im Bereich profaner Herrschaft finden, vom frühen Mittelalter bis weit in die Neuzeit. Hier einige recht willkürliche Belege: Im Hochmittelalter berichten Heldenepen, dass herrscherliche Qualitäten „erscheinen“, dass der Herrscher „Schein“ „trägt“, wie etwa Parzival im zwischen 1200 und 1210 entstandenen Versroman des Wolfram von Eschenbach: „Ihr tragt so edeln Schickes Schein, Wohl mögt ihr Volkes Herre sein.“ [4] Kaiser Friedrich III. begründete in einer Urkunde von 1453 die bevorzugte Behandlung seiner eigenen Familienmitglieder damit, dass sie „der Abkunft aus edlem Blute sich erfreuen und im Glanz des alten Adels erstrahlen“ [5]. Noch in Goethes 1795/96 erschienenem Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ macht der Held die Unterschiede zwischen „Edelmann“ und Bürger am Glanz fest: „Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und was er scheinen will, ist lächerlich oder abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten und schaffen…“ Da der bürgerliche Wilhelm aber durchaus auch „wirken“, seine Persönlichkeit voll entwickeln möchte, meint er, zum Theater gehen zu müssen, denn: „Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den oberen Klassen…“ [6] Für Goethe war das Theater ein mögliches Medium, um auch als unterprivilegierter Bürger „glänzen“, um die Beschränkung auf bloße Leistungserfüllung überwinden zu können. Die überragende sportliche Leistung vor einem begeisterten Publikum war und ist dafür eine weitere Möglichkeit – und hochaktuell.
Und woran erkennt man den Glanz ganz konkret? Dem glänzenden Herrscher wird im Mittelalter von den Untertanen sympathetisch auch ein glänzender Empfang bereitet [7]. Dabei überreichen sie ihm goldene Pokale. Und so beginnt die Geschichte des Pokals, die ich im Vortrag bis in die Gegenwart der Champions League verfolgen möchte…
Vortrag
Dr. Michael Hütt
„Glanz, Glück, Gold, Geld – Pokale von den Heiligen Drei Königen bis zur Champions League“
Mittwoch, 14. April, 19.00 Uhr
Foyer Neckarhalle
Fußnoten
[1] Gunter Gebauer: Das Begehren des Athleten, in: Gerd Hortleber / Gunter Gebauer (Hg.): Sport – Eros – Tod, Frankfurt 1986, S. 184.
[2] Karl-Heinrich Bette: Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit, Berlin / New York 1989, S. 249.
[3] https://twitter.com/FranckRibery/status/1081518649402421248; Abruf 25.02.2021.
[4] „ir tragt geschickede unde schîn, ir mugt wol volkes hêrre sîn“ (Parz. 170,21f.). Übersetzung bei Karl Simrock, Parzival und Titurel, Stuttgart 1883; vgl. Horst Wenzel: Repräsentation und schöner Schein am Hof und in der höfischen Literatur, in: Hedda Ragotzky / Horst Wenzel (Hg.): Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, S. 171 – 208.
[5] Zit. n.: Herwig Wolfram: Splendor Imperii. Die Epiphanie von Tugend und Heil in Herrschaft und Reich, Graz / Köln 1963 (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Ergbd. XX,3), S. 126.
[6] Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 5. Buch, 3. Kapitel, Ausgabe Insel Verlag Frankfurt M. 1980, S. 301f.
[7] Vgl. Wolfram 1963, S. 29f.