Die Ausstellung „Vor dem Uhrknall. Zeit und Leben im Dorf Schwenningen“ im Uhrenindustriemuseum Villingen-Schwenningen erzählt vom 10. April 2022 bis zum 8. Januar 2023 die Geschichte des Dorfs Schwenningen neu. Ein klarer Schwerpunkt liegt dabei auf dem ganz normalen Alltag, der gleichwohl keinesfalls einförmig oder gar langweilig war.
Die dörfliche Welt war vielfach gefährdet – durch Krankheit und Tod, Kriege und Verwüstungen, Hungersnöte oder Brandkatastrophen. Die Sehnsucht nach einem Leben in Ruhe und Sicherheit dürfte groß, aber oft genug vergeblich gewesen sein. In der Ausstellung fragen wir nach den Chancen und den Risiken, mit denen die SchwenningerInnen leben mussten, aber auch nach den Möglichkeiten, um dem eigenen Leben und dem Zusammenleben untereinander diese oder jene Richtung zu geben. Ein konkretes Beispiel für solche richtungsbestimmenden Alltagsentscheidungen greift dieser Blogbeitrag heraus.
Krankheit und Tod waren bis ins 19. Jahrhundert in vielen Fällen nicht beeinflussbar. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug um 1700 in Deutschland nur rund 30 Jahre und um 1850 auch nur 35 Jahre. Das lag vor allem an der sehr hohen Sterblichkeit von Säuglingen und Kleinkindern. In Schwenningen erreichten zwischen 1780 und 1819 nur 56% der Neugeborenen das Erwachsenenalter. Ein eindrucksvolles Rechenexempel des historischen Demographen Walter Gerd Rödel kommt auf der Basis einer annähernd fünfzigprozentigen Todesrate zum Ergebnis, „daß jede Frau (…) im Durchschnitt fünf Kinder zur Welt bringen mußte, um die Geborenen ihres Jahrgangs zu reproduzieren.“: „Wenn von 100 Mädchen eines Jahrgangs drei tot geboren werden, 50 bis zur Erreichung des durchschnittlichen Heiratsalters sterben, fünf ledig bleiben oder bleiben müssen und zwei aus physiologischen Gründen keine Kinder bekommen, so bleiben aus dem Jahrgang 40 übrig, die heiraten und die, um sich selber und den männlichen Teil ihres Jahrgangs zu reproduzieren, insgesamt 200 Kinder zur Welt bringen müssen.“
Doch Schwenningen wuchs sogar stetig, von etwa 700 Einwohnern um 1700 über 2.191 im Jahr 1800 auf 3.998 in 1840. Viele Veränderungen auf verschiedenen Gebieten waren dafür verantwortlich. Dabei spielte Zuzug von außen bis zur 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nur eine relativ geringe Rolle, vielmehr zum Beispiel die weniger opferreichen Kriege, der Anbau von Kartoffeln ab 1760 oder die steigende Zahl der Handwerker, die neben der Landwirtschaft mit einem kontinuierlichen Zusatzeinkommen ihr Dasein sichern konnten.
Um die Wende zum 19. Jahrhundert begann auch die Verwissenschaftlichung der Medizin mit ihrem Anspruch, körperliche Defekte medizinisch oder hygienisch zu beheben. Dieser historische Umbruch der Gesundheitsvorstellungen lässt sich sehr gut an einer Alltagsentscheidung nachvollziehen, vor der Eltern um 1820 standen. In der Ausstellung lassen wir die BesucherInnen an deren Stelle treten und stellen folgende Frage:
In früherer Zeit sind immer wieder viele Menschen, die meisten davon kleine Kinder, an Pocken grausam gestorben, allein in den letzten 30 Jahren über 200. Aber jetzt gibt es ein neues Mittel dagegen: eine Impfung. Die Todesraten sind schon deutlich zurückgegangen – auch in Schwenningen. Lassen Sie Ihr Kind impfen?
Ja: Ich habe Verantwortung gegenüber meinem Kind und will ihm die bestmögliche Gesundheitsvorsorge bieten. Ich vertraue dem staatlichen Gesundheitswesen und den akademischen Ärzten. Die Erfolge sind eindeutig, auch hier bei uns.
Nein: Es ist gar nicht klar, was dieser Eingriff tatsächlich bewirkt. Das Kind der Nachbarn ist zum Beispiel trotz der Impfung schwer krank geworden. Wenn mein Kind an Pocken erkranken oder gar sterben sollte, dann ist das Gottes Wille.
Die Geschichte der Einführung der Pockenimpfung ist sowohl für Europa allgemein als auch für Württemberg anhand zahlreicher Quellen gut nachvollziehbar und auch für Schwenningen gibt es konkretes Zahlenmaterial: Der Schwenninger Unteramtsarzt Ludwig Christoph Friedrich Wilhelm Sturm (1789 – 1829) dokumentierte für die 40 Jahre zwischen 1780 und 1819 zahlreiche Pockenausbrüche. Von 2.562 Menschen, die in diesem Zeitraum starben, war bei 203 Pocken die Todesursache, also bei 7,9%. Allgemein wird geschätzt, dass zwei Drittel der Bevölkerung die Pocken durchmachen mussten.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gab es eine Impfung gegen Pocken. Überall in Europa wurde versucht, möglichst systematisch alle Kleinkinder impfen zu lassen. Damit kam die Bevölkerung auch in Württemberg zum ersten Mal in Kontakt mit der entstehenden naturwissenschaftlichen Medizin. Weil aber gerade in den ländlichen, abgelegenen und ärmeren Gebieten die Akzeptanz der Impfung recht niedrig war, erließ der Württembergische Staat 1818 eine Impfpflicht. In Schwenningen hatte die Gemeinde nun ein leider nicht mehr erhaltenes amtliches Impfbuch, das der Vogt Thomas Weyler höchstpersönlich führte.
Sturm konnte sicherlich auch aufgrund der Impfungen 1823 schreiben: „In den letzten zehn Jahren starb nur ein Kind an Pocken.“ Wer in Schwenningen jedoch seit wann genau wie viele Kinder geimpft hat, lässt sich nicht feststellen. Es gibt aber auch keine konkreten Belege dafür, dass man sich der verordneten Impfpflicht widersetzt hätte.
Wohl aber gab es Konflikte zwischen dem naturwissenschaftlich orientierten, akademisch ausgebildeten Unteramtsarzt und der Schwenninger Bevölkerung insbesondere über den Umgang mit Kinderkrankheiten. Darüber informiert Sturm in seiner Ortsbeschreibung von Schwenningen selbst, wenn er als erstes Beispiel zu den Vorurteilen der EinwohnerInnen aufführt: „Daß bey Kinderkrankheiten nicht viel zu anfangen sey, und daß man dieselbe ihrem Schicksal überlassen müsse, überhaupt glauben viele an ein notwendiges Fatum, und an eine Vorherbestimmung des Lebensziels, so daß wenn eines sterben müsse, es sterbe, wenn es auch die beste ärztliche Hülfe genieße, und diese also so ziemlich überflüssig und alles Gott zu überlassen sey.“
Diese Sicht auf die Schwenninger Bevölkerung hielt Schultheiß Weyler für derart verzerrt, dass er im Namen der Gemeinde einen Antrag auf öffentlichen Widerruf an das königliche Oberamt stellte. Dabei stellt er klar: „Man ist zwar an vieles Medizinieren allhier nicht gewöhnt, jedoch sucht der Kranke ärztliche Hilfe; daß man aber dem Herrn Verfasser wenig wo nicht gar kein Zutrauen schenkt, mag er sich selbst zuzuschreiben und seine begründete Ursachen haben.“ Weyler argumentiert also keineswegs im Sinne der unterstellten Haltung der Bevölkerung zu Kinderkrankheiten, ärztliche Hilfe sei überflüssig, weil das Leben so oder so vorherbestimmt ist. Der Gegensatz zwischen den beiden Positionen besteht nicht in einer Ablehnung oder Befürwortung von Gesundheitsfürsorge schlechthin, sondern in unterschiedlichen Auffassungen über die angemessene Form ihrer Durchführung. Weyler berichtet, dass Kranke zum „Leibmedikus Dr. Rehmann in Donaueschingen, Dr. Wittum in Villingen, Dr. Laib in Rottweil und vielen anderen“ sehr wohl Zutrauen hätten.
Waren Sturms Vorwürfe über die fatalistische Gleichgültigkeit der Schwenninger gegenüber Kinderkrankheiten also aus der Luft gegriffen? Ging es im Kern nur um eine persönliche Vertrauenskrise zwischen dem zuständigen Amtsarzt und seiner Kundschaft? Es fällt auf, dass die „Vorurteile“, die Sturm in der Schwenninger Bevölkerung vorzufinden meint, alles andere als originell sind. In der materialreichen Dissertation zur Pockenschutzimpfung und der traditionalen Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts von Eberhard Wolff sind sie allenthalben wiederzufinden, entpuppen sich aber als oft systematisches Missverstehen skeptischer bis ablehnender Positionen der Bevölkerung durch aufklärerisch bewegte Autoren, die sich im Besitz der einzig möglichen Wahrheit wähnen.
So kann Wolff eine aktive religiöse Ablehnung der Impfung, dass gegen den göttlichen Willen nicht mit weltlichen Mitteln vorzugehen sei, nur bei wenigen fundamentalistischen „Separatisten“ finden (die es allerdings in Schwenningen auch gab) und nicht als verbreitete Meinung. Plausibel ist seine Vermutung, dass hier kein von vornherein bestehender Fatalismus bestimmend war, sondern man im Todesfall die göttliche Vorherbestimmtheit über Leben oder Tod als Trost annahm, um über den Schmerz des Verlustes besser hinwegzukommen.
Auch ließen sich Nachweise finden für das Fortbestehen eines älteren Krankheitskonzepts, in dem es notwendig schien, die Pockenerkrankung zu überstehen, um den Körper von in ihm vorhandenen Giften zu befreien. Wolff erkennt weiterhin eine prinzipiell skeptische Grundhaltung, zunächst einmal von einer Nutzlosigkeit oder Schädlichkeit der naturwissenschaftlichen Medizin auszugehen, sowie eine klare Höherbewertung von zeitlich, räumlich und sozial nahen Erfahrungen gegenüber abstrakten Vorstellungen. Je klarer es sich jedoch zeigte, dass die Impfung effektiv vorbeugend wirkt, desto mehr gingen diese Vorbehalte zurück.
Ein aus heutiger „moderner“ Sicht harter, aber deshalb keineswegs irrationaler Standpunkt scheint besonders in sozial schwachen kinderreichen Familien eingenommen worden sein: Der Tod vor allem von sehr jungen Kindern konnte sogar gewollt oder durch Unterlassung von Hilfe unterstützt worden sein, wenn sich so die wirtschaftliche Not der Familie lindern ließ. Die Gesundheit jedes Einzelnen hätte somit keinen absoluten Stellenwert gehabt, sondern wurde notfalls der Existenzerhaltung der ganzen Familie untergeordnet. 1816 war ja das berühmte „Jahr ohne Sommer“, in dem ein großer Teil der Bevölkerung hungern musste. Auch diese bewusste oder unbewusste Haltung ließ sich gegenüber dem eigenen Gewissen und nach außen mit dem Verweis auf die göttliche Vorherbestimmtheit allen Lebens mehr oder weniger gut kaschieren.
In allen diesen hier auf der Basis württembergischer Beispiele aufgezeigten Begründungen für eine Ablehnung der Impfung ist nicht die von Sturm angenommene Gleichgültigkeit ausschlaggebend gewesen, sondern es scheinen alternative Konzepte der Gesundheitsvorsorge auf, die gegenüber der Möglichkeit zur Impfung abgewogen wurden. Diese hier am Beispiel der Pockenimpfung angedeutete Vielfalt unterschiedlicher Gesundheitskonzepte, die nicht abergläubisch oder antimodern waren, aber dennoch den neuen naturwissenschaftlichen Lehren widersprachen, zeigen das große, differenzierte und in dieser Differenziertheit ernstzunehmende Konfliktfeld auf, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Bezug auf die Gesundheitsvorsorge herrschte.
Auffällig und aufschlussreich ist so vor allem das gegenseitige Missverstehen zwischen dem „modernen“ Arzt Sturm sowie Vogt Weyler und seiner „traditionalen“ Gemeinde. Noch im Jahr des Erscheinens seiner Ortsbeschreibung verließ Sturm Schwenningen. In diesem Sinn gilt: „Wir sind nie modern gewesen“ – in Anlehnung an einen programmatischen, ebenso lakonischen wie provozierenden Buchtitel des Soziologen Bruno Latour. Der Satz lässt sich bei der Betrachtung scheinbar „vormoderner“ Dorfgesellschaften wie Schwenningen mit gleicher Berechtigung umkehren: „Wir sind nie traditional gewesen.“
Der Ausstellung ist es ein wichtiges Anliegen, scheinbare Gegenpole wie „Traditionalität“ und „Modernität“ zu hinterfragen und stattdessen das abwägende Für und Wider zwischen eher am „alten Herkommen“ orientierten und eher auf Fortschritt und Wandel ausgerichteten Positionen in den Vordergrund zu stellen. So lässt sich nachvollziehen, dass auch damals gezweifelt, kritisiert und hinterfragt wurde. Immer gab es Optionen, jede einzelne Entscheidung zählte, um das eigene Leben, aber auch das Zusammenleben untereinander zu gestalten.
Bewusst ziehe ich mit den hier vorgetragenen historischen Positionen zur Impfung keine Parallelen zur Gegenwart, obwohl die Versuchung natürlich groß ist. Doch sind die historischen Situationen, die mentalitätsgeschichtlichen, religiösen oder sozialen Begleitumstände, auch die Arten der Impfung selbst zu unterschiedlich, um hier sinnvolle Aussagen treffen zu können.
Herzlichen Dank an Julia Medovyi für Archivrecherche und hilfreiche Kommentare, die auch Ralf Ketterer, Ursula Köhler und Lisa Schmied lieferten.
Verwendete Literatur:
Friedrich Wilhelm Sturm: Versuch einer Beschreibung von Schwenningen in der Baar am Ursprung des Neckars…, Tübingen 1823
Eberhard Wolff: Einschneidende Maßnahmen. Pockenschutzimpfung und traditionale Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1998
Walter G. Rödel: Die demographische Entwicklung in Deutschland 1770 – 1820 [https://www.regionalgeschichte.net/bibliothek/aufsaetze/roedel-entwicklung-demographie-deutschland.html; Abruf 11.08.2021]