Im April 1859 klagte das Königlich Württembergische Postamt in Schwenningen darüber, „daß die Ortsuhr stets 1/4 – 1/2 Stunde später als die Rottweiler Uhr gehe“. Was jahrhundertelang vermutlich niemandem auffiel, geschweige denn störte, war nun ein ernsthaftes Problem, denn die zwischen Rottweil und Villingen verkehrenden „Eilwagen“, die auch an der 1840 eingerichteten Schwenninger „Posthalterei“ hielten, fuhren streng nach Fahrplan.
Als 1839 die Gemeinde Schwenningen um die Einrichtung dieser „Postexpedition“ bat, verwies sie auf „den immer mehr zunehmenden Handel“, „die bedeutenden Geschäfte der Kaufleute und die große Zahl der Uhrenmacher, welche in vielen auswärtigen Staaten im Verkehr stehen“ sowie vor allem auf den Schriftverkehr und die Geldzuwendungen der monatelang abwesenden etwa 80 Uhrenhändler. Im Vordergrund stand also der Transport von Briefen, weniger von Personen.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts war man allgemein in Deutschland mit großem technischen und organisatorischen Aufwand bemüht, den Postverkehr zu beschleunigen. Das begann mit der Zucht leistungsfähigerer Pferde. Die neu eingeführten „Eilwagen“ erhielten eine bessere Federung. Großes Gepäck wurde in gesonderten Beiwagen vorab transportiert. Bessere Straßen sollten weniger Rollwiderstand und vor allem witterungs- und saisonunabhängig gleichbleibende Bedingungen bieten. Seit 1825 gab es auch von Schwenningen in Richtung Rottweil wegen der Transporte zur und von der seit 1824 produzierenden Saline eine befestigte Straße.
Vor allem war minutengenaue Pünktlichkeit wichtig. Die Reisenden hatten sich 15 Minuten vor der Abfahrt einzufinden und mussten schon einen Tag zuvor ihre Fahrkarte gekauft haben. Die Postillone wurden mit Kursuhren ausgestattet. Mithilfe all dieser enormen Investitionen und logistischen Maßnahmen gelang es, die Reisegeschwindigkeit zu verdoppeln – auf 10 km/h.
Wenn jedoch die Kirchturmuhr als einzige öffentliche Uhr im Ort nachging, waren alle diese Bemühungen umsonst und das Postamt beklagte, dass „schon oft Postsendungen, als zu spät übergeben, nicht mehr … befürdert werden“ konnten. Also lud der Kirchenkonvent, der sich im Dorf um solcherart Vergehen zu kümmern hatte, den Uhrregulierer vor. Der behauptete, „die Uhr sei schwer zu behandeln, sie könne nicht genau fortgeführt werden“. Er gab aber auch zu, dass „er sie nur nach der Sonnenuhr gerichtet, nicht nach den Zeitgleichungstabellen“. Damit gab er eine entscheidende Fehlerquelle preis. Doch was hatte es damit auf sich?
Sonnenuhren geben die Zeit so an, wie sie dem Stand der Sonne vor Ort entspricht, als sogenannte „Wahre Ortszeit“. Steht der Schattenwerfer parallel zur Erdachse, so sind die mit ihr ablesbaren Stunden auch gleich lang. Die Ortszeit ist natürlich abhängig vom geographischen Längengrad. So geht in Karlsruhe die Sonne etwa drei Minuten später auf als in Stuttgart. Zwischen Schwenningen und Rottweil ist der Unterschied allerdings minimal und nicht der Grund dafür, dass die Schwenninger Uhr gegenüber der Rottweiler nachging. Allerdings bedingen der ellipsenförmige Lauf der Erde um die Sonne und die Schräglage der Erdachse, dass der Sonnenuhrzeiger im Verlauf eines Jahres um bis zu fünfzehn Minuten vor- oder nachgeht, je nachdem, an welcher Position der Umlaufbahn sich die Erde gerade befindet. Die „Wahre Ortszeit“ ist also eine andere als die immer gleiche „Mittlere Ortszeit“ der Räderuhren. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts waren deshalb „Tabellenwerke weit verbreitet, die die Umrechnung der ‚Wahren Ortszeit‘ in eine ‚Mittlere Ortszeit‘ auch für Nicht-Astronomen leicht möglich machten, und ihre Zahl nahm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch stark zu.“ (Graf 2017) Der Schwenninger Uhrregulierer Jäckle kannte seiner Aussage nach diese Zeitgleichungstabellen, doch es war ihm offensichtlich zu lästig, sie beim Stellen der Uhr auch anzuwenden. So musste die Kirchturmuhr zwangsläufig gegenüber der mittleren Ortszeit, nach der anscheinend die Rottweiler Uhr gestellt war, mal vor- und mal nachgehen. Herrn Jäckle war das entweder einfach nicht klar oder egal. Vielleicht zeigte nach seinem Zeitempfinden sogar die sich nach der Natur richtende Sonnenuhr die eigentlich „richtigen“ Stunden an und nicht die mechanisch-künstliche Räderuhr. Was Herr Jäckle dachte, wird sich nicht klären lassen. Erstaunlich scheint, dass es solche Ungenauigkeiten ausgerechnet in einem Ort gab, in dem bereits seit annähernd 100 Jahren Uhren produziert wurden. Freilich machte die Abweichung bezogen auf einen Tag nur höchstens zwanzig Sekunden aus und es darf füglich bezweifelt werden, ob die einfachen handwerklichen Uhren aus Schwenninger Produktion überhaupt eine Ganggenauigkeit hatten, die das Erkennen dieser Abweichung möglich machte. Es zeigt sich auf jeden Fall das Paradox, dass die Herstellung von Uhren für einen internationalen Markt einerseits die Notwendigkeit beschleunigter Kommunikation und mit der Post minutengenaue Pünktlichkeit in den Ort brachte, andererseits aber dieser synchronisierte Takt der Uhren im nach wie vor von Landwirtschaft und Handwerk geprägten Uhrmacherdorf noch nicht streng angewandt wurde.
Der Kirchenkonvent bestrafte nun nicht etwa den Uhrregulierer für seine schlampige Amtsauffassung, sondern versprach ihm umgekehrt sogar eine Gehaltsaufbesserung, wenn er sich künftig „genau nach dem Sextanten u. den Tabellen“ richte. Es scheint so, als sei dem Gremium bewusst gewesen, dass damit eine zusätzliche, bisher nicht benötigte Arbeitsleistung eingefordert wurde. Zugleich stiftet die neue Regelung aber für heutige Leser*innen zusätzliche Verwirrung. Denn was hat man in diesem Zusammenhang mit einem Sextanten gemacht?
In der Sammlung des Heimatmuseums Schwenningen ist solch ein Gerät erhalten geblieben. Es handelt sich dabei um ein drehbar an einen Ständer montiertes Kreisbogensegment aus Metall von einem Sechstel eines vollständigen Kreises – daher der Name. Steht der Sextant waagerecht auf einem Tisch – was sich mit einem Lot feststellen lässt, wovon am Exemplar des Museums nur noch ein kurzes Stück der Fadenaufhängung vorhanden ist – und wird er so aufgestellt, dass durch ein kleines Loch an einem links anmontierten Plättchen ein Sonnenstrahl hindurchgeht, so muss man ihn drehen, bis dieser Strahl genau auf den eingravierten Punkt im unten rechts angebrachten Plättchen trifft. Dann lässt sich auf der am unteren Segmentbogen eingravierten Skala das Maß des Höhenwinkels der Sonne ablesen. Solche Geräte wurden zusammen mit entsprechenden Zeitgleichungstabellen vertrieben, mit deren Hilfe sich anhand des Winkelmaßes unter dem aktuellen Datum ablesen ließ, wie spät es genau war.
Doch trotz der goldenen Brücke, die der Kirchenkonvent dem Uhrregulierer gebaut hatte, ging in Schwenningen die Turmuhr weiter nach. Im Mai 1860 kam es deshalb erneut zu einer Beschwerde des königlichen Postamts. Jetzt gab es jedoch eine andere Lösung. Im selben Jahr hatte auch die weltliche Gemeinde Schwenningen für ihr 1851 gebautes Rathaus eine Uhr gekauft, gefertigt von dem Vöhrenbacher Uhrmacher Anton Häckler. Diese zweite öffentliche Uhr im Ort wurde tatsächlich „genau nach dem Sextanten regulirt“. Der Uhrenrichter der Kirchturmuhr wurde nun ganz einfach dazu veranlasst, sich nach der Rathausuhr zu richten. Seitdem war die Ganggenauigkeit der öffentlichen Uhren kein Thema mehr. Auch die Rathausuhr ist heute in der Sammlung der Schwenninger Museen.
Die simple pragmatische Lösung war gleichwohl von großer Symbolkraft. Seit dem Mittelalter hatte die Kirche über ihr „Uhrenmonopol“ die Herrschaft über die Zeit ausgeübt. Mit den Glockenschlägen ihrer Kirchturmuhren war sie es, die den Tag in gleichlange Stunden gliederte. Zugleich legte sie fest, was bei welchem Glockenschlag für alle verbindlich zu tun oder zu lassen war: natürlich der Besuch der Gottesdienste, doch genauso zum Beispiel, wie lange höchstens zu arbeiten war, nämlich bis zur Sabbatruhe samstags um 10 Uhr abends, oder wie lange man sich auf der Straße aufhalten sollte, nämlich bis zum Betzeitenläuten. Der Rhythmus des Tages und des gesamten Jahres war fest in kirchlicher Hand. Nun jedoch wurde das Zeitregime der Kirche vom vereinheitlichenden Zeitregime der industriellen Beschleunigungsgesellschaft bedrängt. Was mehr oder weniger gleichzeitig in der gesamten westlichen Welt stattfand, war in Schwenningen höchst konkret zu beobachten: Durch den Druck, den die auf Pünktlichkeit getrimmte Post ausübte, verlor die Kirche ihre Vorrangstellung in der Zeitangabe. Das Rathaus hatte die Herrschaft über die Zeit übernommen und die Kirche hatte sich nun ihm anzupassen.
Herzlichen Dank an Julia Medovyi für die Quellenrecherche und an Lisa Schmied für die Entdeckung des Sextanten!
Benutzte Archive:
Stadtarchiv Villingen-Schwenningen
Landeskirchliches Archiv Stuttgart
Benutzte Literatur:
Johannes Graf: Die zweite Teilung der Stunde. Zur Geschichte der Sekunde, in: PTB-Mitteilungen 127 (2017), Heft 3, S. 5-12
https://blog.deutsches-uhrenmuseum.de/2017/09/14/sextant/ (Abruf: 08.06.2022)