In der Ausstellung des Uhrenindustriemuseums „Vor dem Uhrknall – Zeit und Leben im Dorf Schwenningen“ ist auch das Phänomen der Auswanderung im 19. Jahrhundert ein Thema. Dieser Artikel versucht, die historischen Hintergründe und Ursachen dieser Auswanderung aus Schwenningen zu beleuchten.
Am 26.4.1847 machte sich eine Gruppe von 180 Menschen aus Schwenningen auf den Weg nach Nordamerika. Ihr erstes Ziel war New York. Sie planten, von dort aus ins Landesinnere weiterzuziehen, wo sie sich eine neue Existenz aufbauen wollten. Warum? Ganz ähnlich wie bei Migrationsbewegungen der heutigen Zeit standen meist ökonomische Ursachen neben Krieg, Intoleranz und Vertreibung an erster Stelle der Beweggründe. In Schwenningen kamen für die Auswanderungswilligen 1847 die Faktoren fehlende finanzielle Rücklagen und fehlende Erwerbsmöglichkeiten mit wetterbedingten Missernten zusammen. 1847 hatte sich allerdings nicht das erste Mal die Lage so zugespitzt, dass nur die Auswanderung eine Lösung zu bieten schien. Schon das „Jahr ohne Sommer“ 1816 infolge des Ausbruchs des Vulkans Tambora im heutigen Indonesien hatte mehr als hundert SchwenningerInnen im Jahr darauf zur Auswanderung getrieben. Doch solche Naturkatastrophen oder Wetterkapriolen mit nachfolgenden Ernteausfällen waren nicht die einzigen Gründe für solch verzweifeltes Handeln. Vor allem das starke Bevölkerungswachstum bei wenig dynamischen ökonomischen Bedingungen und stark ungleichen Besitzverhältnissen, wie es in Schwenningen seit Mitte des 18. Jahrhunderts der Fall war, hatte per se schon Potential genug, um Teile der Einwohnerschaft in Hunger und Armut zu treiben. Kamen dann noch Katastrophen wie Ernteausfälle hinzu, waren die Existenzgrundlagen vieler Familien dahin. Insbesondere Tagelöhner und kleine Handwerker, die mit ihrer Erwerbstätigkeit nur ein kärgliches Zubrot erwirtschaften konnten, also von den Erträgen ihrer meist winzigen Stückchen Land auf Gedeih und Verderb abhängig waren, befanden sich mit ihren Familien in dauerhaft prekären Verhältnissen.
Das Phänomen der zunehmenden Verarmung und Verelendung weiter Bevölkerungsteile betraf in jener Zeit aber ganz Europa. Es wurde von den Zeitgenossen als „Pauperismus“ (von lat. pauper = arm) bezeichnet. „Der Pauper des beginnenden 19. Jahrhunderts ist eine Figur, die dem Bettler und Vagabunden des 16. und 17. Jahrhunderts in gewisser Weise gleicht. Er ist ein Produkt der sozialen Unsicherheit und zugleich verkörpert er das Phantasma einer herrschenden Elite, die sich in ihrer Sicherheit bedroht fühlt. Er dürfte – der Theorie zufolge – gar nicht vorhanden sein und bevölkert scheinbar doch die Städte und Gemeinden.“ (Bohlender, 2010) Traurige Berühmtheit im Kontext des Pauperismus haben der schlesische Weberaufstand 1844 und die große irische Hungersnot infolge der Kartoffelfäule (1845-49) erlangt; diese historischen Ereignisse weisen aber auch darauf hin, dass es neben sozio-ökonomischen auch politische Ursachen für Pauperismus und Auswanderung gab.
Dass in Schwenningen 1847 mehrere Familien in prekärer Lage waren, passt also ins dramatische Gesamtbild der sozialen Situation in Europa. Die Schwenninger Gemeindekasse musste insbesondere in Jahren schlechter Ernten und wirtschaftlicher Rezession (etwa beim Uhrenhandel) die Dorfarmen massiv unterstützen und ließ z.B. Armensuppen kochen, um die im Wortsinne „am Hungertuch Nagenden“ nicht sterben zu lassen.
In Schwenningen, wie auch andernorts, kamen noch Willkür, Prunksucht und Gier der Herrschenden extrem verschärfend hinzu. Bis zum Regierungsantritt von Wilhelm I. 1816 war nämlich das württembergische Herrscherhaus oftmals bestrebt, sich auf Kosten der Bevölkerung rücksichtslos zu bereichern, etwa althergebrachte gemeinschaftliche Nutzungsrechte von Wäldern einzuschränken oder Steuern beliebig zu erhöhen. Darüber hinaus gab es vor Ort eine über Jahrhunderte zementierte politische Dominanz von Großbauern, die ihre persönlichen Interessen nicht selten auf Kosten der Allgemeinheit z.B. in Fragen der Nutzung der Allmende (der gemeinschaftlichen Weide) durchsetzten, im Gemeinderat das Sagen hatten und im Zweifelsfall mit der Obrigkeit in Stuttgart auch unter Einsatz von Repressionen und Schikanen zur Wahrung ihrer Interessen kooperierten. Der in der Ausstellung „Vor dem Uhrknall“ thematisierte Kampf von Philipp Mehne und anderen gegen diese Missstände veranschaulicht lebhaft diese politischen Ursachen der verzweifelten Situation, in der sich Teile der Dorfgemeinschaft in Krisenzeiten immer wieder befanden, und wirft bezeichnende Schlaglichter auf die soziale Lage in Württemberg und vor Ort. Die Revolution 1848, an deren Spitze in Schwenningen Johannes Bürk stand, hatte tatsächlich ja nicht nur starke Intentionen in verfassungspolitischer Richtung, sondern zielte in ihrer sozio-ökonomischen Dimension auch auf die Behebung des lokalen Pauperismus, also der wirtschaftlichen Auswanderungsursachen.
Die eingangs erwähnten 180 SchwenningerInnen, die in der Auswanderung die einzige Möglichkeit sahen, ihre Situation zu verbessern, waren in Württemberg und in Deutschland beileibe keine Einzelfälle. Über eine halbe Million Menschen wanderten zwischen 1815 und 1848 aus dem Gebiet des nachmaligen Deutschen Reiches aus. Politisch motivierte Auswanderungen kamen nach und im Verlauf der Revolution 1848/49 hinzu. Eine Wirtschaftskrise in den USA, der Amerikanische Bürgerkrieg und der Boom der Gründerzeit im Deutschen Reich bewirkten seit Ende der 1850er Jahre stagnierende Auswanderungszahlen, die aber in den 1880er Jahren bis 1893 wieder auf mehr als 1,7 Millionen Menschen dramatisch anwuchsen. Bis zum 1. Weltkrieg wandelte sich dann aber das Bild: „Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich das hochindustrialisierte Kaiserreich mit entsprechendem Arbeitskräftebedarf von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland entwickelt.“ [www.dhm.de/lemo/reaktionszeit/alltagsleben/auswanderung.html]
Wie aber lief nun die Auswanderung der 180 aus Schwenningen konkret ab? Ähnlich wie für die meisten Flüchtlinge heute war eine solche Reise Mitte des 19. Jahrhunderts mit vielen Risiken und Gefahren, nicht selten auch lebensbedrohlichen, verbunden. Um es vorweg zu nehmen: Die 180 Männer, Frauen und Kinder hatten am Ende Glück und kamen wohlbehalten in der Neuen Welt an. Aber anfangs sah es gar nicht danach aus. Tatsächlich gab es einige Turbulenzen im Ablauf des ursprünglichen Reiseplans des Reutlinger Auswanderungsagenten J.J. Beck, der sie betreute. Schon in Mainz musste die Gruppe der Auswandernden geteilt werden, da das Postschiff von London nach New York nur noch Platz für 63 Personen hatte, wie Beck dort erfuhr. Die zurückbleibenden 117 Auswandernden holte er später ab und verschaffte ihnen ebenfalls eine Überfahrt von London aus. Allerdings sollte das Ersatzschiff nicht nach New York, sondern in die kanadische Stadt Quebec am St. Lorenz-Strom fahren, was bei den Auswandernden zunächst große Sorgen und Ängste auslöste. Beck konnte sie aber schließlich überreden, mit ihm dorthin zu fahren, was letztlich wohl kaum jemand bereuen musste, zumal sich Beck scheinbar redlich um die ihm Anvertrauten gekümmert hat.
Zu guter Letzt fanden die beiden Schwenninger Auswanderergruppen in Wapakoneta, Ohio auch wieder zusammen. In dieser 500-Seelen-Gemeinde an der Landstraße von Detroit nach Cincinnati wohnten schon andere deutsche Auswanderer, vor allem aus dem westfälischen Lengerich (seit 1994 Städtepartnerschaft mit Wapakoneta) und sogar welche aus dem Schwenninger Nachbarort Trossingen. Alles was sonst aus den Quellen bekannt ist, deutet daraufhin, dass die 180 wohl tatsächlich eine auskömmliche neue Heimat fanden. Freilich liefen solche Auswanderungsunternehmungen, schon beginnend mit der Reise über den Atlantik, nicht immer so gut ab. Manche wurden von den Agenten selbst ausgenommen und betrogen. Kritiker der weitverbreiteten Praxis der Gemeinden in Deutschland, ihre Dorfarmen auf die ungewisse Reise ins Ausland zu schicken, gab es unter anderem auch deshalb. Allen voran der Schwenninger Demokrat Johannes Bürk, der allerdings pikanterweise um 1850 selbst ein Auswanderungsbüro als „Agent der `Hoffnung´“ betrieb.
Er bezeichnete 1847 den Schwenninger Gemeinderat als „Urheber des Unterganges und der Not so vieler in die Fremde geschickter Mitbürger.“ Möglicherweise war ja die Kenntnis von den schweren Schicksalen jener Auswanderer, die weniger Glück hatten als die 180, Motivation für Bürk, selbst als Auswanderungsagent tätig zu werden; so konnte er den schwarzen Schafen in dieser Berufsgruppe, die vorrangig an ihren finanziellen Erträgen interessiert waren, weniger am Wohlergehen ihrer Schützlinge, tatkräftig Konkurrenz machen und wie J.J. Beck treulich für einen möglichst glatten Neustart der ihm Anvertrauten sorgen. Tatsächlich aber lassen sich solche Motive Bürks weder belegen noch ihre Umsetzung in der Realität überprüfen – mangels Quellen. Sicher scheint nur, und dies ist eine nicht zu leugnende und nachzuvollziehende Tatsache, dass der Verlust der Heimat, von Freunden und Familie von den meisten Auswandernden als sehr schmerzlich empfunden wurde. Gleichwohl, so schreibt der Historiker Frank Caestecker, der sich mit Auswanderern Richtung Cincinnati intensiv beschäftigt hat, hielten diese wohl nicht so beharrlich an Werten und Traditionen der Vergangenheit fest, wie man gemeinhin glaubt: „Ihre Antwort auf die Herausforderungen der Neuen Welt war die Herausbildung einer neuen sozialen Gruppe, der ethnischen Gruppe. Die lokale Identität der Alten Welt wurde gegen ein ethnisches Bewußtsein, das der Neuen Welt Form und Inhalt gab, eingetauscht.“ Sie integrierten sich, so Caestecker, in Cincinnati in die breitere deutsche Gemeinde und wurden zu „Deutschamerikanern“.
Die andere Seite der Geschichte der erfolgreichen Assimilation der Immigranten ist, dass die Siedlungspolitik der USA, die die Auswanderung ja erst ermöglichte, einherging mit der Vertreibung der amerikanischen Ureinwohner, der sogenannten First Nations, bzw. der Zerrüttung, wenn nicht gar Vernichtung von deren Lebensgrundlagen durch die sich ausbreitenden europäischen Siedler und die flankierenden Maßnahmen der US-Regierung. Das bedeutet, dass mit der Rettung aus dem Elend der einen, der verarmten Europäer, ihrer Flucht nach Amerika, untrennbar verbunden war, andere, nämlich die indigene Bevölkerung Nordamerikas, ins Elend zu treiben. Doch das ist dann schon die nächste Geschichte.
Literatur und Quellen:
Stadtarchiv Villingen-Schwenningen 3.1-3 Nr. 4901 und 3.1-3 Nr. 4206
Benzing, O.: Schwenningen am Neckar. Geschichte eines Grenzdorfes auf der Baar, Schwenningen 1985
Bohlender, M.: Soziale (Un-)Sicherheit; in: Münkeler, H./Bohlender, M./Meurer, S.: Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2010, S. 110 f.
Caestecker, F.: Transatlantische Migration; in: Frevert, U./Haupt, H.-G.: Der Mensch des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1999, S. 228-233
Neher, F.L.: Johannes Bürk, ein schwäbischer Wegbereiter industrieller Fertigung, Schwenningen 1955