Neuentdeckungen gelingen nicht nur bei Sammlungsauflösungen oder in Auktionshäusern. Manchmal ist es der eigene Museumsbestand, der bei einem zweiten Blick Überraschendes offenbart. So geschah es kürzlich mit einer Strohmarketerie-Dose aus der Schwarzwaldsammlung. Das Objekt, das bis dato in der Ausstellung als „Schachtel, Schwarzwald, 19. Jahrhundert“ bezeichnet war, entpuppte sich als wahres Kleinod.

Die ca. 15 cm breite und 6,5 cm hohe Spanholzschachtel ist auf allen Seiten mit Strohmarketerien ausgelegt, also mosaikartigen Arrangements aus einzelnen, unterschiedlich gefärbten Strohstücken, die raffiniert zu Bildern zusammengefügt wurden. Besonders schön sind Außen- und Innenseite des Deckels gestaltet. Auf der Außenseite sehen wir zwei Figuren in einer exotisch anmutenden Landschaft. Die sitzende männliche und die stehende weibliche Person sind um einen Tisch mit Teeservice gruppiert und rauchen an langen Pfeifen. In die linke Bildhälfte ragen palmenähnliche Pflanzen, rechts im Hintergrund erkennen wir eine Insel mit zahlreichen Gebäuden. Entlang der oberen Kante läuft ein Spruchband: „du hast mich schon ein lust erwecket dieweill ich seh dass dier so schmecket“ – offensichtlich eine erotische Anspielung auf das Pfeifenrauchen. Die Farben sind stark verbräunt und die Oberfläche ist teilweise beschmutzt und beschädigt.

Deckel und Boden der Strohschachtel, die von Oskar Spiegelhalder fälschlich „um 1800“ datiert wurde.
Die allegorische Szene auf der Deckelinnenseite steckt voller Symbolik.

Einen besseren Eindruck der ursprünglichen Farbigkeit vermittelt die Deckelinnenseite. Auch hier ist eine Bildszene ausgesprochen kunstvoll aus verschiedenfarbigem Stroh gestaltet. Wieder sind es zwei Figuren, diesmal eine unter einem Baum sitzende Frau und ein junger Mann, der auf einer Sackpfeife spielt. Die Landschaft ist idyllisch, wir sehen Wälder und Hügel, weidende Schafe und verspielt umhertollende Hunde. Der auf einer Sackpfeife spielende Hirtenjunge ist eine alte Liebesallegorie, deren Bedeutung auch hier durch ein Spruchband unterstrichen wird: „Mein Verlangen kompt gegangen“. Wie in einem Comic können die Sprüche jeweils einer Figur zugeordnet werden: Ist es auf der Vorderseite der Mann, dessen „lust erwecket“ wird, spricht hier offenbar die Frau, die ihr „Verlangen“ herannahen sieht.

Unschwer ist die Dose also als Liebesgabe zu deuten, vielleicht ein Brautgeschenk oder die Verpackung eines solchen. Auch vermuteten wir schon lange, dass diese Schachtel mitnichten aus dem Schwarzwald stammt – und eher ins 18. als ins 19. Jahrhundert datiert. Der Beweis dafür gelang aber eher durch Zufall.

Heißer Tipp der Kollegen

Im April 2017 war Margitta Hensel vom Schloss Moritzburg wegen einer Leihabwicklung zu Besuch im Franziskanermuseum und entdeckte zufällig die Strohschachtel in der Schwarzwaldsammlung. Sie fühlte sich an Werke des Lübecker Strohmarketeriekünstlers Carl Hinrich Hering erinnert und bat um nähere Informationen zum Objekt. Durch Vermittlung unserer Restauratorin Ina Sahl trat ich mit ihr und zwei weiteren Kolleginnen, die zwischenzeitlich über die Sache informiert worden waren, in Kontakt. Bettina Zöller-Stock vom St.-Annen-Museum Lübeck bereitete gerade eine Sonderausstellung über Hering vor, und Angelika Rauch, Professorin an der Restaurierungshochschule Potsdam, hatte dessen Objekte eingehend untersucht.

Die hellen Strohstücke der „Chinoiserie“ entsprechen Goldeinlagen bei Lackarbeiten.

Ich hatte mich mit der Darstellung auf der Deckelaußenseite vor Jahren schon einmal unter dem Aspekt des Exotismus beschäftigt, weil sie eine sogenannte Chinoiserie darstellt – eine Imitation ostasiatischer Kunst, in diesem Fall nach Vorlage chinesischer und japanischer Lackarbeiten. Meist handelt es sich dabei um Rekombinationen generischer Versatzstücke, wie sie zeitgenössischen Vorlagenbüchern wie dem „Treatise of Japanning“ entnommen werden konnten. Außergewöhnlich schien mir die Kopfbedeckung der Figuren, die so gar nicht asiatisch wirkt, sondern eher an indianischen Federschmuck erinnert. Um kulturelle Präzision ging es dem Künstler jedoch nicht, denn vom „Orient“ hatte man im barocken Mitteleuropa ohnehin nur diffuse Vorstellungen. Die Länder im Osten wurden mit Luxus, Genuss und Müßiggang assoziiert, eignen sich also hervorragend als Kulisse für Liebesszenen. Interessant auch die Gewänder: Während das Kleidungsstück des sitzenden Mannes an ein Hanfu, eine chinesische Seidenrobe, erinnert, trägt die Dame ein sehr europäisch wirkendes Reifrockkleid – ein echter „Clash of Civilizations“!

Für „Chinoiserien“ bediente man sich gerne aus Vorlagenbüchern wie John Stalkers und George Parkers „Treatise of Japanning“ von 1688.

Erstaunt war ich dann schon, als ich sehr ähnliche Darstellungen in einem Artikel über die Familie Hering sah, den mir Frau Hensel geschickt hatte. Kein Zweifel: Die Darstellungen dieser Lübecker Strohkünstler, die mir bis dahin unbekannt waren, glichen der auf unserer Dose bis in Details. Sogar der merkwürdige Federschmuck tauchte wieder auf. Wer waren sie, diese „Heringe“ aus dem Norden?

Eine talentierte Familie

Über den wichtigsten Vertreter dieser Werkstatt,  Carl Hinrich Hering, ist wenig bekannt. Belegt ist er vor allem durch Kindstaufen in den Jahren 1694, 1697 und 1699, in denen der Beruf des Vaters als „Strohschachtelmacher“ angegeben wird. Sein Arbeitsplatz war wohl zumindest zeitweise das Armenhaus St. Annen in Lübeck, was für eine große Armut der Familie spricht. 1696 wird ein Sohn „Carl Friedrich“ genannt, jedoch kann nicht sicher gesagt werden, ob der Vater mit dem Strohschachtelmacher identisch ist. Interessant ist jedenfalls, dass ein Nachfolger Carl Hinrichs mit den Initialen CFH signierte – womöglich führte der Sohn das Handwerk fort. Gleichzeitig mit CHH arbeiteten CFV und FBV Hering, deren Identitäten unklar sind, die aber sicher mit Carl Hinrich eng verwandt waren.

Die der Hering-Werkstatt zugeschriebenen und datierten Stücke rangieren zwischen 1695 und 1736. 1999 wurde eine erste Überblicksstudie über das Werk verfasst, wobei etwa 30 erhaltene Objekte identifiziert werden konnten. Die meisten davon befinden sich im St.-Annen-Museum.  Über das Kunstinteresse adliger Sammler, die ihre barocken Wunderkammern mit allerlei merkwürdigen und außergewöhnlichen Gegenständen bestückten, verbreiteten sich Werke der Herings über ganz Deutschland bis nach England und Skandinavien.

Strohmarketerie-Dose mit Chinoiserie, St. Annen-Museum, Inv.-Nr. 1900-97, © St. Annen-Museum/Fotoarchiv der Hansestadt Lübeck

Trotz der stilistischen Ähnlichkeiten und eines gewissen kompositorischen Formalismus ist jedes Objekt individuell gestaltet und zeichnet sich durch hohe künstlerische und handwerkliche Qualität aus. Der Untergrund der verschiedenen Objekte, von Buchdeckeln bis zu Kommoden, besteht in der Regel aus Holz, das an den Sichtflächen mit Papier ausgekleidet wurde. Die gefärbten Strohstreifen wurden aufgeschnitten, ausgekratzt und in mehreren Lagen aufgeleimt. Komplexere Figuren mussten aus kleinsten Teilen verschiedenfarbigen Strohs zusammengesetzt werden, wobei die natürliche Faserrichtung genutzt wurde. Durch eingedrückte Linien, die mit Mineralkohle gefüllt wurden, konnten Schraffuren erzeugt werden. Nachträglich aufgebrachte Farben an der Oberfläche waren die Ausnahme.

Exot in der „Schwarzwaldsammlung“

Wie kam nun dieser „Hering“ aus dem Norden ins Franziskanermuseum? Das Objekt stammt aus der Sammlung von Oskar Spiegelhalder, der um die Jahrhundertwende einen umfangreichen Bestand an Schwarzwälder Volkskunst und Gegenständen des alltäglichen Lebens und Arbeitens zusammentrug. Unter nicht näher dokumentierten Umständen erwarb er die Dose am 24. Oktober 1911 in Neustadt und verzeichnete sie unter der Nummer 6896 in seinem Inventarbuch: „Schachtel aus Strohmosaik [….] schön verziert mit Spruch […] um 1800“. Offenbar hegte er keinen Zweifel an einer Herstellung im Schwarzwald. Nach Spiegelhalders Tod verkaufte seine Tochter einen Teil seiner Sammlung 1929 nach Villingen, wo sie sich seitdem befand.

Signatur und Datierung wurden erst unter Streiflicht sichtbar: „CHH 1719“

Leider schaffte es die Schachtel nicht mehr in die Lübecker Sonderausstellung „Stroh, kostbar wie Gold“, aber im sehr lesenswerten Ausstellungskatalog wurde sie berücksichtigt. Bei einer erneuten Untersuchung unter Streiflicht entdeckten wir schließlich auch Signatur und Datierung: CHH 1719. Damit war die Sache klar: Unsere von Oskar Spiegelhalder als Schwarzwälder Strohschachtel gesammelte Dose stammte aus der alten Hansestadt Lübeck – und aus den Händen eines der talentiertesten Strohmosaikkünstler des 18. Jahrhunderts.

Literaturtipp: Bettina Zöller-Stock (Hg.): Stroh, kostbar wie Gold. Strohmarketerie der Hering-Werkstatt im St. Annen-Museum Lübeck, ebd. 2017, ISBN: 394231021X