Der Umbruch vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit war turbulent, ereignisreich und allzu oft blutig. Buchdruck, Entdeckung Amerikas, Reformation – das sind nur einige Eckpunkte, die diese Übergangszeit markieren. Doch noch etwas anderes war prägend für den Beginn der neuen Epoche in Europa: die so genannte „Türkengefahr“. Gemeint ist die Angst vor der Ausbreitung des Osmanischen Reiches, das 1453 Konstantinopel erobert hatte und 1529 den „goldenen Apfel der Christenheit“ ins Visier nahm – Wien. Schauermärchen von grausamen Massakern, eine Kette aufsehenerregender militärischer Erfolge und die augenscheinliche Fremdheit der Eroberer versetzten ganz Europa in Aufruhr und nährten Untergangsängste apokalyptischen Ausmaßes. Fast 300 Jahre lang blieb die osmanische Bedrohung der weltpolitische Hintergrund, vor dem sich erstmals eine gesamteuropäische Identität herausbildete.
Auch an Villingen gingen diese Entwicklungen nicht spurlos vorüber. Als Teil Vorderösterreichs war man der Hauptstadt der Habsburger treu verbunden, und als Sultan Süleyman 1529 sein Heer vor den Toren Wiens lagern ließ, fühlte man sich auch am Schwarzwaldrand unmittelbar bedroht. Zugleich faszinierten die fremdländische Kleidung, die merkwürdigen Bräuche und die exotischen Tiere im Gefolge der Soldaten – Kamele! – die europäische Öffentlichkeit. Das spiegelt sich deutlich in der Kunst jener Zeit wider, etwa am berühmten Porträt Tizians von Sultan Süleyman mit seinem riesigen Turban. Aber auch auf Kunstwerken aus der Villinger Geschichte finden wir Darstellungen, die vor diesem Hintergrund zu verstehen sind.
Schielende Türken und streitende Christen
Die eindrucksvollste unter ihnen ist sicherlich das Epitaph des Johanniter-Komturs Wolfgang von Maßmünster. Dieser hatte sich 1522 an der Verteidigung der Johanniter-Festung Rhodos gegen die anrückenden Osmanen beteiligt – ein vergebliches Bemühen, denn die Festung wurde nach halbjähriger Belagerung eingenommen. Das Ereignis war für den Johanniterorden ebenso wie für den Menschen Maßmünster wohl so prägend, dass es auf dessen Gedenkstein verewigt wurde. Darauf sehen wir eine christliche und eine osmanische Flotte, antagonistisch einander gegenübergestellt, mit individuell gestalteten Figuren, die gestikulieren und ihre Waffen erheben. Zwar sind die Schiffe der Christen größer, prächtiger und zahlenmäßig überlegen, doch scheint sich in der lebendigen Interaktion der osmanischen Figuren auch eine gewisse Sympathie auszudrücken.
Deren prächtige Kostümierung wird durch fantasievolle Elemente wie Rundschilde mit Gesichtern ergänzt, die keine historische Vorlage haben, aber den exotischen Charakter der Figuren unterstreichen. Dasselbe Sujet ist auf der Wappenscheibe des Georg Kechler von Schwandorf zu sehen, die 1567 für die Herrenzunftstube gefertigt wurde. Auch dieser Komtur hatte an der Seeschlacht von Rhodos teilgenommen, und auch hier sehen wir die Flotten der Christen und Osmanen mit Schilden und Schwertern. Besonders eindrücklich ist die Ganzfigur des Türken mit gestrecktem Säbel, die die rechte Hälfte des Bildfeldes dominiert. Ob deren auffälliges Schielen eine absichtliche Diffamierung darstellt oder eher auf die Fertigkeiten des Malers zurückzuführen ist, sei dahingestellt. Die schon bekannten Türkenfiguren mit Turban und Säbel finden wir schließlich auf einer weiteren Wappenscheibe aus der Herrenzunftstube. An den oberen und unteren Bildenden reiten die Feinde gegeneinander an und umrahmen in dramaturgisch eindrucksvoller Komposition das österreichische Bindenschild, das auf die seit 1326 bestehende Zugehörigkeit Villingens zu Vorderösterreich verweist.
Türkensteuer und Türkentaufe
Ganz real waren die Auswirkungen des Türkenkrieges auf die Villinger Bevölkerung spätestens seit 1576 spürbar, denn den Einwohnern wurde zur Verteidigung des Reiches eine zusätzliche Steuerlast auferlegt, die so genannte Türkensteuer. Gegen die vom Reichstag zu Regensburg beschlossenen 5 Gulden pro 100 Gulden Einkommen protestierte die Villinger Geistlichkeit, die sich gemeinsam mit den Landkapiteln in Breisgau bei der vorderösterreichischen Regierung für eine Herabsetzung der Steuerlast einsetzte. Gegen den Willen des Konstanzer Bischofs, der die Steuer der Geistlichen einziehen wollte, setzten sich die Villinger und Breisgauer mit ihrem Anliegen durch und erreichten eine Senkung auf 2 Gulden. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Steuer als „Reichstürkenhilfe“ mit unterschiedlich festgelegten Beträgen immer wieder erneuert.
Was man bis dahin nur aus diffusen Fantasien und Berichten kannte, konnten viele Villinger im Jahre 1646 erstmals selbst in Augenschein nehmen: Einen echten Muslim. Der Benediktinerabt Michael Gaisser vermerkte in seinem Tagebuch, dass am 1. Mai im Villinger Münster „ein Soldat, der von Nation und bisheriger Religion ein Türke war“ auf den Namen Johann Antonius getauft wurde. Solche „Türkentaufen“ sind in zahlreichen Fällen im 16. und 17. Jahrhundert belegt. Betroffen waren meist Kriegsgefangene, die zum Übertritt zum Christentum gezwungen, dann aber unterschiedslos in die Gesellschaft integriert wurden. Über das weitere Schicksal des Johann Antonius ist daher nichts bekannt, auch nicht über eventuelle Anpassungsschwierigkeiten nach der erzwungenen Aufgabe der kulturellen und religiösen Identität.
Die Villinger eilen zur Rettung
Als die Osmanen unter dem Großwesir Kara Mustafa im Jahre 1683 nach Wien zurückkehrten und die Stadt zum zweiten Mal unter Beschuss nahmen, rissen alte Wunden wieder auf – die Türkengefahr war zurückgekehrt! Hoffnung bestand nur noch im Entsatz, d.h. der Befreiung der Hauptstadt durch äußeren Beistand. Auch Villinger Soldaten sollten sich an der heldenhaften Rettung Wiens beteiligen. Die Villinger Fahnen, unter denen sich auch Wehrpflichtige aus Triberg und Bräunlingen befanden, schlossen sich im September dem im Breisgau gebildeten Landsturm an und marschierten Richtung Osten. Sie waren schon bis Ulm gekommen und hatten sich zum Einschiffen auf der Donau bereitgemacht, als sie die Nachricht von der Befreiung Wiens erreichte. Eine direkte Konfrontation der Villinger mit dem teils gefürchteten, teils verachteten, teils bewunderten türkischen Heer blieb somit zunächst aus.
Dafür blieben die Türken in der Fantasie der Bevölkerung präsent. Am 1. und 3. September 1710 führten Schüler des Gymnasiums der Franziskaner das Schauspiel „Irene“ auf, in dem die titelgebende griechische Christin zum Opfer des wollüstigen und blutrünstigen türkischen Kaisers Mehmet II. wird. „Mein wahre Freüd und Freyheit war das freye Christen Leben; Jetzt muß‘ in tausend Lastern G‘fahr under den Türcken schweben“, klagt die Protagonistin in der offenbar sehr erfolgreichen Tragödie des Rhetoriklehrers Alexander Herth, die 1711 im Druck erschien. 1717 folgte ein Stück über den Sieg des Prinzen Eugen von Savoyen über die Osmanen bei der Einnahme von Temesvár, ein Jahr später die mythologisch verbrämte Geschichte des venezianisch-österreichischen Türkenkrieges (1714-18) unter dem klangvollen Titel „Victoriosa Austria. Oder: Das sighaffte Oestreich“. Der Krieg war am 21. Juli 1718 durch den Friedensvertrag von Passarowitz beendet worden – nur wenige Wochen vor den Aufführungen des Stücks am 30. August und 1. September.
Mit der russischen Südexpansion seit dem 18. Jahrhundert schwand die „Türkengefahr“ als unmittelbare Bedrohung, doch die Erinnerung an die Fremden verblasste nie ganz. Sie wurde Teil des kollektiven Gedächtnisses und des kulturellen Erbes. Ein Schlittenkopf in Form eines Türken mit Turban und Schnurrbart aus der Spiegelhalder-Sammlung dokumentiert, wie das Türkenmotiv allmählich in die Volkskunst einging, wo es bis ins frühe 20. Jahrhundert präsent blieb. Wenn Alterität eine Grundvoraussetzung für die Entstehung von Identität ist, dann dürfen die turbulenten Ereignisse der Türkenkriege in ihrer identitätsstiftenden Wirkung nicht unterschätzt werden – für Europa, Österreich und vielleicht auch für Villingen.
Zum Weiterlesen: Türken, Husaren und Panduren (Michael Hütt, Peter Graßmann)