Ein Gastbeitrag von Joachim Morat


Zu einer Zeit, als kaum jemand den geschichtlichen Wert von Zeugnissen des bäuerlichen Lebens oder der Schwarzwälder Hausindustrien begriff, tat sich der Lenzkircher Uhrenfabrikant Oskar Spiegelhalder als eifriger Bewahrer hervor. Er war einer der ersten Sammler zur Volkskunde des Schwarzwalds und legte drei geschlossene Sammlungen mit Objekten wie Uhren, Glas, Möbeln, Werkzeug und Erzeugnissen der Strohflechterei und Schneflerei an. Eine dieser Sammlungen gelangte nach seinem Tod 1929 durch seine Witwe ins Franziskanermuseum, wo sie heute in der Dauerausstellung zu bewundern ist.

Zum Erwerb seiner Objekte nutzte Spiegelhalder ein Netzwerk von Gewährsleuten, die ihm Objekte preisgünstig zutrugen oder gezielt suchten. Ein wichtiger Zuträger war der Rötenbacher Uhrmacher Pius Wehrle, dessen Engagement Spiegelhalder – und das Franziskanermuseum – einige interessante Objekte zu verdanken haben.

Der Retter des Großherzogs

Pius Wehrle wurde am 3. Mai 1841 in Rötenbach geboren und erlernte bei seinem Vater Johann Wehrle das Uhrmacherhandwerk. 1862 kam er – unter anderem wegen seiner hünenhaften Gestalt – zum badischen Militär, wurde Mitglied der Großherzoglich-badischen Leibgrenadiere und diente während des Preußisch-Österreichischen Kriegs 1866 in einer badischen (österreichischen) Einheit. Am 17. März 1870 heiratete er die aus Dotternhausen im Königreich Württemberg stammende Philippina Uttenweiler. Der Ehe entsprossen insgesamt 12 Kinder, fünf davon starben im frühen Kindesalter.

Pius Wehrle, Foto aus dem Nachlass Oskar Spiegelhalders, 1898

Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 – so eine Episode – rettete er dem badischen Großherzog Friedrich I. das Leben. Der Großherzog soll ihn während eines Gefechts gefragt haben, wie er die Lage bewerte. Daraufhin habe der Gefragte geantwortet: „Königliche Hoheit, schauen Sie sich um. Dort oben steht ein französischer Soldat.“ Der Großherzog ging gerade rechtzeitig in Deckung, bevor die Kugel einschlug, die ihn ohne Wehrles Warnung wohl getroffen hätte. Seitdem stand der Uhrmacher in gutem Kontakt zum Großherzog, den er gelegentlich in verschiedenen Anliegen in Karlsruhe, auf der Insel Mainau und in St. Blasien aufsuchte.

Schwarzwälder Erfindergeist

Seit den 1870er Jahren führte die industrielle Uhrenproduktion zu einem Rückgang der handwerklichen Uhrmacherei. So sank etwa die Anzahl der Uhrmacher in Rötenbach von 25 im Jahr 1850 auf drei im Jahre 1913. Verantwortlich dafür war nicht zuletzt auch Oskar Spiegelhalder, der 1908 zum Direktor der von Eduard Hauser und Ignaz Schöpperle gegründeten Lenzkircher Uhrenfabrik ernannt wurde. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade Wehrles späterer „Arbeitgeber“ dazu beitrug, dessen berufliche Existenz zu gefährden.

In Rötenbach arbeiteten nun die meisten Uhrmacher, die bis dahin Uhren selbständig fertigten, als Zulieferer für die großen Uhrenfabriken. Nur einigen wenigen Uhrenmachern gelang es durch besonders hochwertige, innovative Uhren wirtschaftlich zu überleben. Zu diesen Innovatoren gehörte auch Pius Wehrle. Ein augenscheinliches Beispiel dafür ist ein von Wehrle eingereichtes Patent, das vom deutschen Reichspatentamt 1882 anerkannt und geschützt wurde. Es handelte sich dabei um eine Wanduhr mit Kalenderwerk und Aufzugsfeder.

Kleintierkäfig mit Laufrad in Hausform aus der Spiegelhalder-Sammlung, Franziskanermuseum (Foto: Peter Harbauer)

Seit 1896 war Wehrle „Agent“ des Lenzkircher Sammlers und Uhrenfabrikanten Oskar Spiegelhalder. Wie die beiden Männer sich kennenlernten, ist ebenso unbekannt wie der Grund, aus dem sich Wehrle, der zu dieser Zeit noch immer als Uhrmacher tätig war, zur Zusammenarbeit entschloss. In Spiegelhalders Sammlungen befinden sich jedenfalls zahlreiche Gegenstände aus Rötenbach, darunter vor allem Töpferarbeiten aus den Werkstätten der Familien Baier, Grüner, Villinger und Bantle. In Rötenbach selbst sind außer einer Töpferscheibe aus dem Hause Grüner und einigen kunstvollen Keramikkacheln und Trillerpfeifen fast keine Gegenstände erhalten. Hinweise auf die lange Hafnertradition des Dorfs geben Gewannnamen wie z.B. „Lehmgruben“, „Leingruoben“ oder „Rote Lehmgrube“.

Neben diesen Gegenständen des täglichen Lebens finden sich auch zwei Kuriositäten aus Rötenbach in der Spiegelhalder-Sammlung: Ein Kleintierkäfig mit Laufrad, der bei Betätigung eine mechanische Figurengruppe in Bewegung setzte, sowie ein eindrucksvoller Schlittenkopf mit Türkenmotiv, der aus Pius Wehrles eigenem Besitz stammte.

Schlittenkopf aus der Spiegelhalder-Sammlung, Franziskanermuseum (Foto: Peter Harbauer)

Ein schlagfertiger Hüne

Wehrle nahm aktiv am Dorfleben teil, er liebte die Stammtische der Wirtshäuser und wurde wegen seiner Hünengestalt „dä Groß Pius“ genannt. Der damalige Dorfpfarrer Carl Roegele (1872-1936) schrieb Anekdoten aus Stammtischgesprächen auf, von denen nachfolgend einige erzählt werden sollen:

  •  Im Jahr 1910 stand die Abgabe von Allmendfeldern zur Aufforstung zur Debatte. Jeder Bürger, der ein Allmendfeld abgab, sollte 8 Mark Entschädigung erhalten. Die Debatte wurde schnell hitzig. Der Bürgermeister legte daraufhin die Diskussionsregeln fest: Wer einem anderen ins Wort fiel, sollte 3 Mark bezahlen. Pius begann sein Plädoyer und meinte, dass der Allmendnutzen auch für Nachfahren gelte und deshalb diese auch jeweils 8 Mark aus der Gemeindekasse bekommen sollten. Da fiel ihm der Bürgermeister Karl Wölfle ins Wort. „Oh Pius, sorg´ Du zerscht fir Dini eigene Nachfahre!“ – Schlagfertig antwortete der Groß Pius: „Burgemaischder, du zahlsch 3 Mark“.
  • Pius war nach Meinung des Dorfpfarrers mehr im Bierhaus, als es seiner Frau Philippine lieb war. Er kam oft erst zu später Stunde nach Hause.
  • Wehrle war ein kreativer Techniker und Handwerker, aber in kaufmännischen Dingen war er, so Roegele, sehr auf seine Frau angewiesen, die den Überblick über die wirtschaftliche Situation des Wehrleschen Haushalts hatte und der es gelang, das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben stets zu wahren.
  • Gegen Ende des Ersten Weltkriegs besuchte Carl Roegele den schwer unter Arteriosklerose leidenden Pius Wehrle. „Da fragte ihn seine kleine Enkelin: Du Opa, wa isch denn des, ä Dum-Dum-Geschoss? Der alte Mann schaute seine Enkelin an und antwortete: Marilli, des will ich dir saggä. Guck mich aa! Friäner bin I dumm gsi un jetzt bin I dummdumm, des mit däm Dum-Dum-Geschoss isch halt ä ganz dummi Sach.“
Rötenbacher Schüssel aus der Spiegelhalder-Sammlung, Franziskanermuseum (Foto: Peter Harbauer)

Seine Uhr war abgelaufen

Im Frühjahr 1920 feierten die Eheleute Wehrle das Fest ihrer goldenen Hochzeit und erfreuten sich an den Glückwünschen des Freiburger Erzbischofs Thomas Nörber, des Badischen Staatspräsidenten Anton Geiß (SPD) und der Teilnahme der gesamten Einwohnerschaft des Dorfs.

Für den Großen Pius war dies auch der Abschied von der dörflichen Öffentlichkeit. Einige Zeit danach kam er zu Pfarrer Roegele ins Pfarrhaus und sagte: „Meine Uhr ist am Ablaufen; es geht mit mir jetzt zur großen Armee. Kommen Sie mit mir in die Kirche, ich will mich zur Reise bereitmachen“. Dort brachte er, so Roegele, seine Rechnung mit dem Himmel in Ordnung, dann ging er nach Hause und legte sich ins Bett, von dem er sich nicht mehr erhob.

Am Morgen des 18. Januar 1921 verstarb Pius Wehrle und wurde am 20. Januar 1921 in Rötenbach beerdigt. Seine Frau Philippina Wehrle verstarb am 19. Juni desselben Jahres. Oskar Spiegelhalder bewahrte in seinen Unterlagen ein Foto seines Gefährten, das er um dessen Todesanzeige und Lebensdaten ergänzte. Wenn es sein Wunsch war, dass der große Rötenbacher nicht in Vergessenheit geriet, so hat er sich erfüllt.


Über den Autor: Joachim Morat, Forstwirt, beschäftigt sich seit 50 Jahren mit der Geschichte seines Heimatorts Rötenbach. Er veröffentlichte Beiträge zur Arbeitssicherheit im Wald, ist Autor des Fachbuchs „Der Beruf Forstwirt“ sowie Initiator und Autor der Chronik von Rötenbach.