Tel Aviv, Weiße Stadt, Foto: privat
Modell eines typischen Schwarzwaldhofs, Schwarzwaldsammlung, Franziskanermuseum, Foto: visual artwork

Was haben Schwarzwald und Tel Aviv gemeinsam? Auf den ersten Blick wenig. Als ich 2019 einen Kurzurlaub im frühlingshaft warmen Tel Aviv verbrachte und Fotos von Bekannten zugesandt bekam, die eine Wanderung durch den tief verschneiten Schwarzwald unternahmen, fühlte ich mich maximal entfernt. Tel Aviv besitzt in der so genannten „weißen Stadt“ – mit 4.000 Häusern – die weltgrößte Ansammlung von Gebäuden im Bauhausstil. Hierher waren in der Zeit des Nationalsozialismus viele Architekten aus Deutschland und Europa geflohen. Und wenn man die Gebäude mit ihren gerundeten Fassaden, lichtdurchfluteten Räumen, exponierten Balkonen und Flachdächern betrachtet, bekommt man den Eindruck, dass Architektur und Klima, aber auch Landschaft besonders gut harmonieren. Umgekehrt sind jedoch auch die Schwarzwaldhöfe mit ihren riesigen strohgedeckten Walmdächern und dunklen Innenräumen ein gutes Beispiel für die Forderung der Moderne, dass sich die Form nach der Funktion richten solle („form follows function“). Denn die großen Dächer halten die Schneelast aus und die Wärme in den Wohnräumen. Die niedrigen Raumhöhen und kleinen Fenster entsprechen dem Grundsatz größter Energieökonomie. So entstand die Idee, weitere „moderne Eigenschaften“ in den Ausstellungsgegenständen der Schwarzwaldsammlung des Franziskanermuseums zu suchen.

Eileen Gray, Beistelltisch Adjustable E 1027, Entwurf: 1920er Jahre, Foto: privat
Kerzenleuchter, Schwarzwaldsammlung, Franziskanermuseum, Foto: Peter Harbauer

Am überzeugendsten ist dabei der Vergleich von Kerzenhalter und Beistelltisch Adjustable E 1027 von Eileen Gray (1878-1976). Der Kerzenhalter ist genau genommen eine höhenverstellbare Standleuchte, allerdings mit offenem Feuer. Der Halter der Kerze fährt auf einem viereckigen Stab höher oder tiefer. Ähnlich funktioniert die Anpassungvorrichtung beim von Bauhaus-Materialien inspirierten Tisch von Gray aus den 1920er Jahren. Zwei Stahlrohre, eines mit kleinerem Radius als das andere, werden ineinandergesteckt. Das innere Rohr weist zwei sich gegenüberliegende vertikale Lochreihen auf, das äußere nur zwei sich gegenüberliegende Löcher, durch die ein Stift in der gewünschten Höhe durchgesteckt wird. Der Stift darf nicht verloren gehen, daher wird er mit einem Kettchen am Stahlrohr befestigt.

Beistelltisch E 1027, Detail, Stift zum Feststellen der Höhe mit Kette, Foto: privat
Bauernstube mit angekettetem Schuhlöffel auf Ofenbank, Schwarzwaldsammlung, Franziskanermuseum, Foto: visual artwork

Auch dieser „Trick“ wirkt wie eine Übernahme aus der Schwarzwaldstube des Franziskanermuseums, in welcher der Schuhlöffel zum Anziehen der Schuhe an der Ofenbank festgekettet ist. Beide Ideen – Höhenverstellbarkeit und Sicherung – sind offenbar im erfindungsreichen Schwarzwald schon vorformuliert. Das formschöne und praktische Möbel der ersten Designerin der Moderne geriet in ihrer Zeit jedoch beinahe in Vergessenheit. Es wurde erst in den 1960er Jahren wieder entdeckt und dann massenhaft produziert.

Bollenhut, Schwarzwaldsammlung, Franziskanermuseum, Foto: Museum
Foto: Rekonstruktion der Kostüme des Triadischen Balletts von Oskar Schlemmer, Foto: Bauhäusler 100/Wikimedia, CC BY-SA 4.0

Ikone des Schwarzwalds ist der Bollenhut, eine Kopfbedeckung, die eigentlich nur in drei protestantischen Gemeinden des Schwarzwalds getragen wird: Gutach, Kirnbach und Reichenbach. Die aus Wollfransen bestehenden „Bollen“ symbolisieren Rosen. Sie abstrahieren deren Form als unterschiedlich große, rote Kugeln. Die Reduktion auf einfache geometrische Formen, die Abstraktion, ist ein Gestaltungsprinzip der Moderne und des Bauhauses. Dieses Prinzip hat beispielsweise Oskar Schlemmer beim Entwurf der Figuren des Triadischen Balletts befolgt.

Schwarzwaldtracht, Franziskanermuseum, Aufzug, Foto: Museum

Auch die Tracht der Frauen im Schwarzwald spielt mit geometrischen Formen, stellt sie doch in ihrer Silhouette zwei Kegel übereinander, den oberen jedoch mit der Spitze nach unten, so dass eine Taille – was nichts Anderes heißt als „Einschnitt“ – entsteht. In der bäuerlichen Tracht konserviert sich die Silhouette der höfischen Mode des Rokoko mit weitem (Reif-)Rock und eng geschnürtem Mieder. Diese Silhouette hält sich übrigens auch im modernen Dirndl, das heute zu Volksfesten oder ähnlichen Anlässen getragen wird. Die Bauhaus-Kleidung wählte jedoch einen anderen Weg. Sie nimmt Einflüsse der Reform- und Künstlerkleidung auf, die den Körper nicht einschränken möchte und daher auf den Körper formende Korsetts verzichtet.

Foto: Webereiklasse auf der Bauhaustreppe, 1927
Hemd zur Schwarzwaldtracht, Franziskanermuseum, Aufzug, Foto: Museum

Der blaue Bauern- oder Fuhrmannskittel, der im Grundschnitt dem einer Tunika ähnelt, wird bereits um 1900 zum Vorbild für die Künstler-, Reform- und Kinderkleidung und beeinflusst später u.a. die lockere Kleidung der Zwanziger Jahre, in denen Frauen körperferne Hemdkleider ohne Taille tragen. Auch das Hemd der (Schwarzwald-)Tracht verwendet diesen Grundschnitt mit geraden Stoffbahnen, der Verschnitt, also Verschwendung von Stoff vermeidet. Um Bewegungsfreiheit oder Körpernähe zu erreichen, wird bei diesem Schnitt der Stoff am Halsausschnitt und am Ärmelansatz gekräuselt, das heißt in kleine Falten gelegt. In den 1920er Jahren, in denen es schon Trikotstoffe, die gestrickt und damit dehnbar sind, kann auf diese Technik verzichtet werden.

Krug, weiß glasiert mit schwarzen Streifen, Schwarzwaldsammlung, Franziskanermuseum, Foto: Peter Harbauer

Bereits der Architekt und Städteplaner Le Corbusier sammelte bäuerliche und „antike“ Keramik, die einfache Grundformen wie Kugel und Zylinder variierte. Solche Keramiken dienten als Muster für die Ausbildung in den Keramischen Werkstätten am Bauhaus. Sie respräsentierten in ihrer Einfachheit und ihrem Purismus die „gute Form“ einer modernen Industriekultur. Sie waren nicht zu übertreffen, weil sich Form und Funktion vollkommen entsprachen. Beweis dafür war schon, dass sie über Jahrhunderte gleich blieben.

Diese Beispiele zeigen, dass der Bauhaus-Gedanke nicht nur den „neuen Geist“ einer Industriekultur, geprägt von den neuen technischen Errungenschaften – Flugzeug, Eisenbahn, Elektrizität – , verkörperte, sondern auch die angenommene „Einfachheit“ bäuerlichen Kulturguts als Inspirationsquelle nutzte. Bauhaus und Schwarzwald sind sich nicht so fremd, wie es zunächst scheint.